Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Titel: Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
Vom Netzwerk:
können! Und als ich aussteige, da grinst mich so
ein Punker an, so ein biertrinkender, nach Sackschweiß stinkender Freak! Grinst
breit übers ganze Gesicht. Jetzt bin ich mir nicht mal mehr sicher, ob es
wirklich das Arschloch-Kind war. Das ist das Schlimmste. Meine Güte, sind die
scheußlich. Vierzig Euro? Du hast vierzig Euro bezahlt – für sowas? Ja kennst
du keine Billigläden? War doch nur für den Übergang, im wahrsten Sinne …«
    Carla tat, als verstünde sie den Einwand nicht. »Vierzig Euro ist doch superbillig.«
    »Verstehe. Aber rot-blau …«
    »Sieht cool aus.«
    »Da bin ich zu alt für.«
    »Mach dich maln bißchen locker … Du bist grad eben so alt wie
George Clooney.«
    »Der war halt auch schon mal jünger.«
    Carla gab ihrem Chef und Liebhaber einen Kuß auf die Wange. Sie
flüsterte ihm ins Ohr, daß es absolut unsexy rüberkomme, wenn Männer über ihr
Alter lamentierten, selbst wo das Lamento gerechtfertigt sei. Dr. Stern begriff
die Zurechtweisung und nahm sich vor, den Rest des beschissenen Tages cool und
souverän zu wirken.

2
    Auf dem Kreuzberg in Berlin, unterhalb des Denkmals für
die Völkerschlacht 1813, dem höchsten Punkt des Viktoriaparks, einem
Tummelplatz für Originale dieser sonderbaren und mannigfaltigen Stadt,
kontrollierte etwa zur selben Zeit eine gelangweilte Zivilstreife, bestehend
aus zwei noch jungen Beamten, in Ermangelung etwaiger des Drogenhandels
Verdächtiger, einen hageren alten Mann, der seinen Mitmenschen durch wirres
Gerede auf die Nerven ging, verbunden mit aufdringlichem Gebettel. Er konnte
sich nicht ausweisen, aber man fand weder Waffen noch Drogen bei ihm noch sonst
etwas von Belang. Der braungebrannte Greis trug nichts als eine ehemals wohl
weiße, inzwischen isabellfarbene Kutte mit einem schmalen Ledergürtel sowie
abgelatschte Sandalen, er stützte sich auf einen schmucklosen Stock, und Gefahr
schien von ihm nicht gerade auszugehen. Gefragt, was er hier tue, gab er zur
Antwort, er warte auf einen, der seiner Stimme bedürfe. Wie er das meine,
fragte einer der Fahnder. Und der Greis hob beide Arme und rief: »Höret, ihr
Himmel! Und Erde, nimm zu Ohren! Denn der HERR redet: Ich habe Kinder auferzogen und erhöht, und sie sind von mir abgefallen.
O weh des sündigen Volks, des Volks von großer Missetat, des boshaften Samens,
der verderbten Kinder, die den HERRN verlassen. Das
ganze Haupt ist krank, das ganze Herz ist matt. Von der Fußsohle bis aufs Haupt
ist nichts Gesundes an ihm, sondern Wunden und Striemen und Eiterbeulen, die
nicht geheftet noch verbunden noch mit Öl gelindert sind. Euer Land ist wüst,
eure Städte sind mit Feuer verbrannt!«
    Den Zivilfahndern war er irgendwie unheimlich, aber ihm das zur Last
zu legen, dazu konnten sie sich so recht nicht entschließen.
    »Höret des HERRN Wort, ihr Fürsten von Sodom! Nimm
zu Ohren unsers Gottes Gesetz, du Volk von Gomorra! Was soll mir die Menge
eurer Opfer? Spricht der HERR . Ich bin satt der Brandopfer von
Widdern und des Fetten von den Gemästeten und habe keine Lust zum Blut der
Farren, der Lämmer und Böcke.«
    Der Alte wies, wie zum Beweis, auf den Rasen, wo einige meist
türkische Familien auf Blechtripoden Fleischspieße grillten, was seit neuestem
eigentlich verboten war, aber selten geahndet wurde.
    »Sonst ist mit Ihnen alles okay?«
    »Wenn ihr hereinkommt, zu erscheinen vor mir, wer fordert solches
von euren Händen, daß ihr auf meinen Vorhof tretet? Waschet, reiniget euch, tut
euer böses Wesen von meinen Augen, laßt ab vom Bösen!«
    Die Zivilfahnder verständigten sich mit kurzen Blicken, dann taten
sie, als habe nie ein Gespräch stattgefunden. Sie ignorierten den Alten und
zogen weiter. Er rief ihnen nach:
    »Lernet Gutes tun, trachtet nach Recht, helfet dem Unterdrückten,
schaffet dem Waisen Recht, führet der Witwe Sache!«
    Dagegen war nichts einzuwenden.

3
    Die Trambahn Richtung Rathaus wollte und wollte nicht
kommen. Dr. Stern und seine Sekretärin, die nach der letzten Weihnachtsfeier
seine Geliebte geworden war, saßen vor den Gleisen und beobachteten diverse Mäuse,
die die Schienen entlanghuschten. Neben die beiden setzte sich ein junger
Türke, vielleicht achtzehn, vielleicht jünger, mit athletischem Körper, in
roter Jogginghose und weißer Nike-Laufjacke. Der Junge beugte sich vor und ließ
mit gespitztem Mund einen Schwall gesammelter Spucke zu Boden fallen, zwischen
seine teuren, leuchtend weißen Basketballschuhe. Stern fand den

Weitere Kostenlose Bücher