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Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Titel: Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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kreisten seine Gedanken nicht mehr unangeleint herum in
seinem Schädel. Er fror. Lief hin und her, bis ihm warm wurde, öffnete mit
seinem ersten eigenen Feuerzeug eine der Bierflaschen und trank. Es schmeckte.
Überraschend gut. Johnny hätte gerne große, euphorisierende Musik gesummt, ihm
fiel nichts Passendes ein, er summte irgendwas. Und bald war es, als begänne
die Nacht selbst, sich in Töne und Klänge zu verwandeln. Johnny mußte einfach
nur an ihrem Rand, an ihrem Saum, entlangschreiten und zuhören. Er rauchte eine
neue Zigarette an. Sie schmeckte ganz anders als die beiden vorherigen, nicht
so kratzig und dunkel, nicht wirklich gut, aber erträglich. Morgen würde er
sich eine Arbeit suchen müssen, um in der großen Stadt aus eigener Kraft zu
überleben. Nach Hause wollte er nicht mehr zurück. Es war aufregend, solch
einen Entschluß zu fassen. Allein die Tatsache, aus freiem Willen heraus einen
solchen Entschluß fassen zu können, überkam ihn wie eine große, fundamentale
Erkenntnis. Zwischendurch holte er neues Bier, denn die Zigaretten schmeckten
ohne nicht. Auch die Tageszeitung von morgen kaufte er und sah im Schein einer
Straßenlaterne die Stellenanzeigen durch. Ein Job als Kinovorführer wäre toll,
er würde viele böse Filme sehen dürfen und noch Geld dafür bekommen. Schlafen
konnte man im Kino auch, wenn die Zuschauer erst weg waren. Schlafen würde er
weiterhin, das war eine gute Angewohnheit, die er in sein neues Leben
übernehmen wollte. Schlafen. Vielleicht sogar jetzt gleich, ein bißchen.
    Holger kroch gegen halb drei zu Sibylle in den Schlafsack
zurück. Er hatte in der Umgegend verzweifelt nach einem Kondomautomaten
gesucht, keinen gefunden und zuletzt die Fahrer an einem Taxistand gefragt, ob
sie ihm eventuell aushelfen könnten. Einer konnte tatsächlich und überließ ihm
sein sogenanntes Notfallset für einen Euro, er habe es nun schon zwei Jahre in seiner Hosentasche
angewärmt. Sibylle schnarchte leise. Als Holger seine Frau wecken wollte,
schlug sie ihm, er nahm an, unabsichtlich, mit dem Handrücken ins Gesicht, und
er wagte kaum zu atmen, atmete dann doch, durch die Nase, langsam ein und aus,
in ihren reizenden Nacken hinein. Sein Versagen war nicht von der Tafel zu
wischen. Aber morgen, morgen würde ein neuer Tag kommen. Mit ganz aberwitzigen
Möglichkeiten.
    Sarah Stern lag noch lange wach. Sie überlegte an etwas
Großem herum, an etwas, das Zeichen setzen würde, das sich in ihrem Kopf
festgesetzt hatte, etwas, für das der Begriff ›Wunsch‹ viel zu harmlos klang.
Doch um sich die obskure, unheimliche Sehnsucht zu erfüllen, war ein Helfer
nötig – und sie kannte niemanden, dem sie sich hätte offenbaren wollen. Ihre
Freundin Julia hatte ihr vor zwei Jahren, als sie hin und wieder noch
miteinander geplaudert hatten, eine Telefonnummer aufgeschrieben. Aus
irgendeinem Grund, wohl vornehmlich dem, eine solche Nummer überhaupt nur zu
besitzen, hinter deren unscheinbaren Zahlen sich etwas für ihre Verhältnisse
ganz und gar Verruchtes verbarg, hatte Sarah den Zettel nie vernichtet. Es war
so einfach. Sie mußte nur dort anrufen und jemanden bestellen, bezahlen, dann
würde sie einen Helfer haben. So einfach war es – und dennoch saß Sarah
stundenlang vor dem Telefon, regungslos, wie gelähmt vor Furcht.
    Vor was genau hab ich denn Angst? – fragte sie sich, führte
Selbstgespräche, in denen ihre eine Hälfte der anderen immer wieder bewies, daß
es keinen Grund gab, Angst zu haben. Endlich ergriff sie den Apparat, tippte
die Nummer ein und hielt die Muschel ans Ohr. Eine Frauenstimme meldete sich
und fragte freundlich, wie man ihr zu Diensten sein könne. Stockend, schwer
atmend, bat Sarah um Auskunft, ob es die Möglichkeit gebe, sich mit einem
Herren auch im Freien zu treffen.
    Der Mann sah durch ein Fenster auf die Straße. Sie wirkte
leer, frei von Passanten, und auch in den vielen Fenstern gegenüber war kein
Gesicht zu erkennen, das sich dafür interessierte, was hier so spät noch
vorging. Das Kind schlief. Der Mann, der es auf seinen Armen trug, betrat die
Straße und lief rasch einige hundert Meter nach links, in Richtung
Viktoriapark. Als er die ersten Büsche erreichte, seufzte er, halb erleichtert,
halb traurig, denn er hatte das Kind liebgewonnen. Es auszusetzen fiel ihm
schwer. Er legte den wie leblos schlafenden Körper auf eine Parkbank, breitete
eine Fleece-Decke über das kleine Geschöpf. Dann dachte er nach und nahm die
Decke wieder weg,

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