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Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Titel: Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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jedes Gefühl von Tages- oder Nachtzeit verloren. Manchmal
hatte sie nach Aufforderung eine wollene Seemannsmütze aufsetzen und bis zum
Kinn hinabschieben müssen, dann hatte sie durch die Wolle hindurch eine vage
Lichtquelle wahrgenommen, manchmal sogar den Umriß einer Gestalt, die ihr Essen
und Trinken ans Bett stellte, ein Kleinkinderbett, mit Gittern drumrum. Nicht
wie ein Laufstall, nein, ein Bett mit Gittern aus engmaschigem Draht.
    Einmal, ganz am Anfang, hatte sie es gewagt, die Mütze
hochzuschieben. Die Wand war aus Eierkartons gemacht gewesen, dann kam
irgendwoher eine harte, fleischarme Hand, legte sich quer über ihre Augen. Und
wieder Dunkelheit. Der Atem eines Mannes. Die Nase des Mannes, der an ihr
gerochen hatte. Unter viel Seufzen und Stöhnen. Haare, die sie gekitzelt
hatten.
    »Du wirst nie wieder so dreist sein, hörst du? Sonst muß ich dir weh
tun.«
    »Ich will zu Mama.«
    Wie oft hatte sie diesen Satz gesagt. Sonja war groß genug, um zu
verstehen, daß ihr Gefahr drohte. Und doch nicht groß genug, um diese Gefahr in
jedem Moment ernstzunehmen.
    Jetzt klang die Stimme anders als sonst. Bestimmter. Gar nicht
liebenswürdig.
    »Setz die Mütze auf, Sonja.«
    Sonja gehorchte, und eine Taschenlampe schien ihr in die Augen,
deren Licht grell genug war, sie zu blenden.
    »Aua!«
    »Hast du die Mütze auf? Versprichst du, sie aufzubehalten?«
    »Ja.«
    »Wir machen jetzt einen Spaziergang!«
    Die Kleine hörte, wie ihr Käfig aufgesperrt wurde. Zwei grobe Hände
packten sie um die Hüfte und hoben sie in die Luft. Bis auf den Lichtkegel der
Taschenlampe war alles finster ringsum.
    »Schluck das!«
    Der Mann schob dem Kind die Mütze hoch, bis knapp unter die Nase,
und hielt eine Pille an Sonjas Lippen. Sie nahm die Pille in den Mund und bekam
in die rechte Hand einen Becher gedrückt, mit stillem Wasser darin.
    »Schluck die Pille. Na los! Dann spürst du nichts!«
    Sonja gehorchte. Sie hatte Angst, ohne zu wissen, wovor genau, aber
bald ließ die Angst nach, und sie schlief ein, gegen ihren Willen. Sie wäre so
gerne wach, am Leben geblieben. Ohne dabei schon zu wissen, was Leben und Tod
voneinander trennte. Der Mann, der nach alten Kleidern roch, trug sie auf
seinen Schultern in eine Dunkelheit, durch die ein Lichtkegel zuckte. Davon
bekam sie noch ein wenig mit, bevor ihre Lider schwer wurden.
    Johnny war in der Haifisch-Bar gestrandet. Er hatte noch
einen Zehner und einen zweimal gefalteten Fünfzig-Euro-Schein in der Tasche,
der war für Vivien, die schöne Nutte, bestimmt gewesen. Der Rest seiner
heimlichen Ersparnisse. Bereits nach dem ersten Drink, einem sehr süßen
Louisiana-Flip, hatte Johnny den nötigen Pegel erreicht, um wie von weit oben
auf sich herabzusehen und dem, was er da unten von sich sah, die Absolution zu
erteilen. Die Menschen kamen ihm plötzlich alle so lächerlich vor, er schloß
sich selbst nicht aus, im Gegenteil. Das elegant-glatte, ganz und gar nicht
rustikale Ambiente dieser Bar kam ihm erst faszinierend fremd vor, dann
unheimlich, ja feindlich. Hier saßen Leute, die Ahnung vom Leben besaßen, die Distanz
dazu gewonnen hatten, die keinen Flipper oder Kicker brauchten, um sich
irgendwie abzulenken. Dieser Ort war seiner nicht. Dem Kellner mangelte es an
Höflichkeit. Er bediente Johnny wie jemanden, den man eben in Kauf nehmen muß.
Der sich hierher nur einmal verirren wird, dann nie mehr.
    Johnny ließ den Zehner auf dem Tisch liegen, lief die Nostitzstraße
hinunter auf die Bergmann, sah sich die Schaufenster einer Videothek an, all
die vielversprechend bösen Filme, vor denen seine Eltern ihn zu warnen nie müde
geworden waren. An einem 24-Stunden-Internet-Point am Mehringdamm kaufte er
zwei Flaschen Berliner Pilsner, dazu eine Schachtel Lucky Strike, ein billiges
Feuerzeug, und ging nach Westen, bis zu dem großen, schmutzstarrenden Bassin,
in das sich der Victoria-Wasserfall ergoß. Er pinkelte in einen Busch. Rauchte
seine erste Zigarette. Ihm wurde schlecht. Heute wollte er sich soviel Neues
wie möglich erlauben. Er schmiß die halbgerauchte Zigarette ins brackige
Wasser, kam sich wie ein Weichei vor und zündete sich gleich die nächste an.
Sie schmeckte noch viel weniger. Johnny legte sich schlafen, ins Gras oberhalb
des kleinen Zoos, der zum Park gehörte. Überall auf den Parkbänken ringsumher
saßen Liebespaare und hatten zu tun, hatten sich vielleicht auch was zu sagen.
Johnny konnte nicht einschlafen und sah auf die Uhr: kurz vor zwei.
    Wenigstens

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