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Eis

Eis

Titel: Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Kosch
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deutlicher und der heutigen Welt verständlicher zu sein, führen wir das Verfahren an, das die Eskimos und auch die Jäger unserer Eiszeit anwenden: Wenn sie ein größeres Wild erlegt haben, vergraben sie dessen Fleisch im Schnee und bedecken es mit Eisplatten, damit es sich ihnen monatelang frisch erhält. Für die Männer der Wissenschaft war in dieser Sache von besonderem Interesse, daß sich im Schnee und Eis Sibiriens die Kadaver der zottigen Mammute aus der Periode der vorigen Eiszeit, an die zwanzigtausend Jahre alt, derart gut erhalten haben, daß es nach ihrer Ausgrabung den Anschein hatte, sie könnten sich von selbst auf die Beine erheben und sich zu einem Spaziergang über die vereiste Tundra aufmachen.
    Die ersten Versuche wurden mit Tieren vorgenommen, danach auch mit Patienten. Der Mensch wird nackt ausgezogen und in eine Wanne mit Eis gestellt. Seine Temperatur wird unter Null gesenkt, komplizierte Operationen werden an ihm vorgenommen, dann wird er langsam wieder erwärmt und zum Leben erweckt. Tiere sind auf diese Weise mehrere Tage unter Eis gehalten worden – und nun gilt es, das gleiche auch mit Menschen zu machen, aber nicht nur zum Zwecke der Heilung – also lediglich für ein paar Stunden, bis die Operation beendet ist –, sondern für die gesamte Dauer der Eiszeit von zwanzigtausend Jahren. So wird es einem gewissen, ausgesuchten Teil der Menschen gelingen, diese Zeit zu überdauern; gleichzeitig werden dafür andere am Leben bleiben können. Es wird mehr zu essen und für alle mehr Platz geben, wenn die einen über dem Eis bleiben, die anderen unter das Eis gehen. Desgleichen ist vorgesehen, daß die Eingeeisten nach einer gewissen Zeit enteist werden, damit sie, vergleichbar den Sträflingen in modernen Gefängnissen, ein wenig frische Luft schnappen und sich draußen vergnügen können, auf Urlaub, bevor sie wieder ins Eis zurückkehren. Auf diese Weise in Raten lebend, alle hundert oder tausend Jahre, werden sie die Eiszeit überstehen, ohne sich gegenseitig zur Last zu fallen. Diejenigen, die sich nicht mögen und sich nicht riechen können, brauchen einander überhaupt nicht zu begegnen – oder es wird ihnen vielleicht höchstens einmal in tausend Jahren widerfahren, was wirklich nicht viel ist.
    Nur wird auch dies alles, versteht sich, nicht ohne gewisse Unliebsamkeiten und Schwierigkeiten vonstatten gehen. Etliche davon sind ganz gering und unbedeutend, so unangenehm sie dem einen oder anderen auch sein mögen, zum Beispiel die kalten Bäder aus Anlaß der Eineisung, wie auch verschiedene Rechts-, Wohnungs-– und Vermögensfragen nach der Enteisung. Das größte Problem wird aber zweifellos die Lagerung darstellen, das heißt die Unterbringung von ein paar hundert Millionen vereisten Menschen, und im Zusammenhang damit werden verschiedene Verwaltungsprobleme in bezug auf die Registrierung und Kontrolle der Vereisten, der Festsetzung ihres Enteisungsdatums und so weiter auftauchen …“
    Das Neue an diesem Projekt und dessen Vorzüge riefen bei den Menschen bedeutendes Interesse und auch verschiedenartige Kommentare hervor. Das Anziehende daran, um die Wahrheit zu sagen, rührte nicht so sehr von der Möglichkeit her, anderen Platz zu machen, als vielmehr von der Aussicht, das eigene Leben wie eine Harmonika auseinanderziehn zu können, und von dem Wunsch, die Nase in die Zukunft, in ferne, kommende Jahrhunderte zu stecken.
    Sofort kam der angeborene menschliche Konservatismus zum Ausdruck – aber auch der Widerstand gegen alle Neuerungen, ferner Mißtrauen, geschürt von der Erfahrung, daß der erste Katzenwurf für gewöhnlich weggeschmissen wird und es demnach besser ist, die Erprobung der neuen Methode auf der eigenen Haut anderen zu überlassen. Danach verbreitete jemand das Gerücht, es handele sich überhaupt nicht um eine vorübergehende Vereisung, sondern um die heimliche Absicht, auf listige Weise soviel Menschen wie möglich für immer zu beseitigen, und da das mit Hilfe von Freiwilligen nicht in ausreichendem Umfang gelungen sei, biete sich jetzt die Gelegenheit, auch solche zu beseitigen und zu vereisen, denen lange Zähne gemacht werden und die sich übers Ohr hauen lassen.
    Die Aufregung wuchs indessen noch mehr an, nachdem die Frage gestellt worden war, wer wen hibernisieren solle: denn Vereisungen und vor allem Enteisungen könne es nur geben, wenn es auch diejenigen gibt, die sich damit befassen. Wer sollte sonst die vorübergehenden Vereisungen überwachen,

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