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Eis

Eis

Titel: Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Kosch
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leben, daß wir keine Wohnung haben, keine Vorräte und keine bessere Stellung? Mit welchem Recht denn verlangt man von mir, daß ich mich zugunsten der Gesellschaft opfere, besser gesagt: zugunsten derer, die von der Gesellschaft den größten Nutzen haben?
    Das wollte er denken, er hatte den gewaltigen Wunsch, das zu denken, aber er riß sich noch rechtzeitig zusammen. Er begriff, daß man so nicht denken sollte. Es wäre nicht prinzipiengetreu. Eine solche Meinung könnte mit Recht als persönlich, eigennützig, kleinlich, kleinbürgerlich aufgefaßt werden – und das Hinweisen auf andere als cliquenhaft, fraktionell, neidisch und eifersüchtig, als eng und ohne das richtige, aufopferungsvolle Verhältnis zur Gesellschaft, wie der Genosse Agitator zu Recht sagen würde.
    Nein, so etwas würde er niemals sagen, und er schämte sich, daß er einen Augenblick nahe daran war, es auch nur zu denken. Er entschuldigte sich vor sich selbst und vor dem Genossen Agitator, daß er das Angebot nicht gleich unterschrieben und daß er zugelassen hatte, daß ein so guter Genosse soviel Worte und soviel Zeit für ihn verschwendete. Mein Gott, fragte er sich, was werden die Genossen von mir denken? Ja, ich bin schuld, ich allein, an allem. Es ist mir Gelegenheit gegeben worden, zu zeigen, was ich wert bin, und meine Opferbereitschaft unter Beweis zu stellen, und wieder hab ich den richtigen Augenblick versäumt. Ich hab mich blamiert. Wer weiß, wie lang ich auf eine ähnliche Gelegenheit werde warten müssen, und ob ich sie überhaupt erleben werde.
    Er wünschte zu sterben! Sofort zu sterben, auf der Stelle, vor Qual und Scham. „Ach!“ seufzte er, während er im Zimmer auf und ab spazierte, und zum erstenmal seit wer weiß wieviel Zeit bedauerte er es, daß seine Frau nicht da war, um ihn zu beraten, ja auch auszuschimpfen, wenn es not tat.

    Indessen – die Formulare und die erforderlichen Karteien wurden nicht zur rechten Zeit fertig. Auch die anderen organisatorischen Maßnahmen funktionierten nicht, wie sie sollten. Die erste Freiwilligengruppe wurde feierlich vereist, eine gewisse Anzahl Überzähliger und Überflüssiger verschwand sang- und klanglos. Dann stockte alles wieder für eine Zeit, man starb unorganisiert, jeder wie er wollte und wie es ihm in den Sinn kam. Und der Tod, der sich schneller zeigte als die Verwaltung, erntete ungestört auf den besten Weiden.
    Wieder mußte man etwas tun. Schnell und unaufschiebbar mußte man etwas unternehmen, damit wenigstens ein Teil der kostbarsten Kader vor dem unwiederbringlichen Untergang gerettet werde – jener Teil der Menschen, der das meiste vorstellte, auf der Stufenleiter menschlicher Werte das meiste galt und in Wahrheit erst den Menschen zum Menschen machte. Und gerade dieser Teil paßte sich den unmenschlichen, primitiven und rohen Lebensbedingungen am schwersten an, mußte die meisten Schläge einstecken und befand sich in der größten Gefahr. Die Statistik – die noch funktionierte, als alle anderen öffentlichen Dienste schon versagt hatten („Die Statistik ist wie ein Fisch: sie ist kaltblütig, sie kann unter Eis leben, und sie ist so glitschig, daß man sie am Kopf wie am Schwanz nur schwer packen kann“) –, die Angaben der Statistik sprachen in diesem Sinne tatsächlich eine deutliche Sprache.
    Unter den Angehörigen gewisser Kategorien herrschten verständliche Unruhe und Aufregung. Man konnte auch begründete Mißbilligung unseres sprichwörtlichen balkanischen Schlendrians und Pfuschertums hören. Die bissigsten beklagten sich: „Wir wußten, daß aus allem nichts werden würde, sobald Formulare gedruckt und Karteien eingerichtet werden sollen. Wahrscheinlich streiten sie sich immer noch darüber, welche Rubriken die Formulare enthalten sollen.“ Viele schimpften und fragten in ihrem Groll: „Was ist mit diesem Volk? Warum geht es nicht endlich? Worauf wartet es noch? Will jeder einzeln eine schriftliche Einladung aus dem Jenseits? Da – jetzt sieht man am besten, wie hoch das Bewußtseinsniveau bei uns ist. In anderen Ländern ist bestimmt schon alles erledigt, wie es sich gehört, und alles Überzählige schon längst beseitigt.“
    Und die Zahl der Freiwilligen und derjenigen, die dem Appell Folge leisteten, wurde auf den Todesplätzen tatsächlich immer geringer – nachdem sich dort in den ersten Tagen und im ersten Rausch alle potentiellen Selbstmordkandidaten ausgelebt und ausgetobt hatten. „Wenn man nach Freiwilligen ruft, muß

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