Eis
Lebenden zu verringern, ohne zugleich die Zahl der Toten zu erhöhen. Die Lebenden – selbstverständlich vor allem die Verdienstvollsten und Unabkömmlichsten aus den geschützten Kategorien – werden ihre Lebenszeit im voraus auf die nächsten zwanzigtausend Jahre verteilen. Genauer: die heute leben (oder wenigstens ein bestimmter Teil von ihnen), werden ihr Weiterleben auf später verschieben, ohne diesem völlig zu entsagen.
„Die Sache wird auch deshalb geheimgehalten, weil das Mittel nicht für alle ausreicht“, meinten diejenigen, die in ähnlichen Fällen schon öfters den kürzeren gezogen hatten. „Sind es Injektionen oder Pillen?“, fragten die anderen. „Warum bekommen wir sie nicht?“
„Aber nein, was heißt Injektionen oder Pillen!“ erläuterten diejenigen, die mehr zu wissen glaubten. „Es handelt sich um ein Mittel, das der Eiszeit entspricht. Um ein Eis, mit dem das Eis besiegt wird.“
Tatsächlich – die älteren Leute werden sich erinnern, daß sie als Kinder bei Lungenentzündung und hohem Fieber mit kalten Prießnitz-Umschlägen behandelt wurden und daß man ihnen, wenn sie sich angeschlagen oder eine Wespe sie gestochen hatte, eine kalte Messerschneide auf die schmerzende Stelle legte, was den Schmerz linderte und die Schwellung verringerte. Und Entzündungen der Hirnhaut und des Blinddarms werden noch heute mit Eisbeuteln behandelt. Wie bekannt, wirkt Kälte ausgezeichnet auf die Nerven und beruhigt sie. Kalte Duschen sind auch heute noch das zuverlässigste Heilmittel in Nervenkliniken – und ist uns nicht allen schon zu Recht geraten worden: ,Seid ruhig und wahrt kalte Nerven’, ,Nehmt es ganz kalt auf und erregt euch nicht vergebens’? Hatten wir nicht alle schon Gelegenheit, in der Zeitung Sätze wie diese zu lesen: ‚Kaltblütig ließ er ihn kommen und wehrte den Schlag ab’, ,Er wahrte auch in diesem Augenblick seine Kaltblütigkeit und konnte sich so retten, während alle anderen zugrunde gingen’, ,Alle seine Bitten und Beschwörungen lassen uns kalt’ … ? Und sprechen alle die angeführten Beispiele nicht von der Überlegenheit der Kälte und Kaltblütigkeit über jugendlichen Schwung und Gefühlsüberschwang? Und schließlich – hat sich in der Außenpolitik der kalte Krieg, als Erfindung unseres Jahrhunderts, nicht humaner gezeigt, als alle warmen und heißen Kriege früherer Jahrhunderte? Und wenn schon vom Krieg die Rede ist – hat den mächtigen Napoleon nicht ausgerechnet der russische Frost geschlagen und im letzten Krieg nicht der General Winter zur Zerschlagung der faschistischen Militärmacht beigetragen? Und, um mich eines uns näherliegenden Beispiels zu bedienen, hat es uns nicht allen so oft geholfen, daß wir in unangenehmen Lagen logen, ohne mit der Wimper zu zucken, oder daß wir, ohne uns zu binden und ohne im Feuer der Begeisterung und heroischer Romantik den Kopf zu verlieren, weise und kaltblütig abseits der Versuchung zu bleiben und uns vor allen Nöten zu bewahren wußten? Hat das Leben uns nicht gelehrt, daß es gefährlich ist, dem Feuer des Vertrauens, der Innigkeit und der Annäherung zu verfallen, und haben schließlich die kultivierten Engländer zum Beispiel ihren Ruf als Gentlemen nicht gerade durch ihre sprichwörtliche Kaltblütigkeit und Kühle erworben?
Und hat uns nicht grad die kühle Betrachtungsweise gelehrt, daß Wärme nur die Reibung und den Widerstand erhöht, daß wir uns durch Widerstand gegen den Strom vergebens und sinnlos erwärmen und Energien verbrauchen, ohne voranzukommen, während wir, im Gegensatz dazu, am weitesten kommen, wenn wir kühl stromabwärts gleiten und die frischen Windstöße ausnutzen? Kann man es für einen Zufall halten, daß gerade auf den höchsten, einsamen Höhen ewiger Schnee und Eis liegt? Wozu sich dann also der Eiszeit vergeblich mit Gegenmitteln widersetzen, mit Feuer und Flamme, wenn klar ist, daß man mit einem Streichholz nicht alle Eisberge der Arktik und Antarktik zum Schmelzen bringen kann? Ist es da nicht besser, sich an den Stärkeren anzulehnen, sich anzupassen und sich just der Kälte zu bedienen, wie die Ärzte das jetzt vorschlagen?
Eine medizinische Abhandlung, die in diesen Tagen in Abschriften von Hand zu Hand ging, erläuterte das ganze Verfahren auf folgende Weise:
„Die Methode ist jener ähnlich, die auch Sie sich früher, in der warmen Zeit, zunutze gemacht haben, wenn Sie Ihr Huhn über Nacht in den Kühlschrank stellten, damit es nicht verdirbt. Oder, um
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