Eis
Wirklichkeit müßte man über uns zu Gericht sitzen, weil wir selber moralisch unrein sind – die allergewöhnlichsten Konformisten, niedrigste und elendeste Knechte, und während seine Freunde dem einen oder andern dienen, sind wir jedermanns Diener und Sklaven, selbst unserer eigenen und unserer persönlichen Eitelkeit.
Dann ging er. Jäh und zornig setzte er sich in Bewegung, wie ein Schauspieler auf den Brettern, in einen schwarzen Umhang gehüllt. ,Es wird keine wärmeren Tage geben, bevor wir selber auftauen’, sagte er bei der Tür und verschwand in der Nacht. ,Und wir stecken so tief im Eis, daß wir, fürchte ich, zwanzigtausend Jahre brauchen werden.’“
„Was?“ fragte Frau Krekić. „Wieviel hat er gesagt?“
„Zwanzigtausend. Mindestens zwanzigtausend.“
„Hör, du mußt dich irren. Bist du sicher? Das ist völlig verrückt und unmöglich. Zwanzigtausend – was, Jahre?“
„Nein, auf keinen Fall, ich bin ganz sicher. Ich hab mir jedes Wort gemerkt. Schon lang hat mich etwas nicht so erregt. Zwanzigtausend Jahre Schnee und Eis.’ Genau das hat er gesagt. Ist es nicht herrlich? Aufregend! Hast du dich endlich entschlossen? Soll ich ihn einladen?“
„Jaja, ich hab mich entschlossen. Zwanzigtausend Jahre, sagst du? Viel! Wer soll das aushalten?“
„Nun also, für welchen Tag soll ich ihn einladen?“
„Wen einladen?“
„Na, ihn doch, Koljitzki, wen sonst. Du hast dich entschlossen, sagst du.“
„Aber doch nicht dazu. Wir haben uns mißverstanden. Ich hab an was andres gedacht. Aber jetzt hab ich’s eilig, man ruft mich. Ich ruf dich später wieder an.“
Sie legte auf und ging in die Küche. „Suse“, sagte sie zum Mädchen, „wieviel, sagte ich, sollst du heute einkaufen?“
„Zwei Kilo. Wie gestern und all die Tage. Die Speisekammer ist schon voll, ich weiß nicht mehr, wohin mit den Sachen.“
„So? Hör, geh schnell und kauf noch zwanzig. Mindestens zwanzig. Und beeil dich, bevor der Laden zumacht.“
Das Mädchen kam noch zurecht. Und obgleich es fast acht Uhr war, waren im Laden derart viele Menschen anzutreffen, als wenn morgen Feiertag war und sie alle bis jetzt auf die Öffnung des Ladens gewartet hätten. Als hätte das ganze Viertel sich hier zu einer Verabredung getroffen oder jedes Haus und jede Wohnung einen Delegierten zu einer Konferenz geschickt.
„Gu’n Abend, Suse“, sagten diejenigen, die das Mädchen kannten. „Zum fünftenmal für heute – und noch so spät … Was hast du denn noch vergessen?“
„Nichts! Zum Abendbrot fehlt mir noch ein bißchen Salz.“
„Salz?“ fragte eine kräftige blonde Frau. „Meint ihr, man müßte Salz einkaufen?“
„Warum sollte man müssen? Es geht nicht ums Müssen. Es hängt davon ab, ob Sie es brauchen.“
„Dennoch, dennoch“, sagte die blondgefärbte Frau. „Vielleicht haben Sie recht. Ich bin vor Ihnen gekommen!“ fuhr sie einen Mann an und schubste ihn zur Seite. „Warum schieben Sie denn so, warum haben Sie’s so eilig?“ Und dann zum Verkäufer: „Sagen Sie, bitt schön, haben Sie noch Salz?“
„Haben wir. Warum sollten wir keins haben. Wieviel wünschen Sie?“
„Ein Kilo. Kann ich ein ganzes Kilo bekommen?“
„Sie können, warum auch nicht. Sonst noch was? Und Sie“, fragte er den Mann, „was wünschen Sie?“
„Nun“, sagte der verwirrt, „geben Sie auch mir ein Kilo.“
„Mir zwei!“ verlangte eine Alte, die nach ihm drankam, dann konnte endlich auch Suse sich vordrängen. „Wir backen. Wir haben wieder gewaltig viel Gäste“, erklärte sie den Umstehenden und ließ den gekauften Zucker in die Tasche fallen. Sie überlegte ein wenig und wandte sich an den Verkäufer: „Hören Sie, geben Sie auch mir Salz. Fünf Kilo! Dann brauch ich nicht jede Weile kaufen.“ Und sie zwängte sich mit ihrer Last durch die versammelte, neugierige Welt zur Tür durch.
Nachdem er endlich die letzten Käufer hinausgeleitet und die Tür verschlossen hatte, machte der Verkäufer Kasse und stellte ein Verzeichnis der verkauften Waren auf und rief seine Zentrale an:
„Schickt mir auf jeden Fall Zucker. Und Salz – soviel ihr könnt. Ich hab heute mehr verkauft als sonst in einem Monat. Ich weiß selbst nicht, was die Leute haben. Es ist doch weder Sommer noch Herbst – keine Einmachzeit und auch nicht die Zeit zum Festefeiern …“
Dann schaute er sich die Rechnungen der Familie Krekić an. Er sah, was die diesen Monat alles geholt hatten, und hielt überrascht inne.
Weitere Kostenlose Bücher