Mythor - 043 - Am Kreuzweg der Lichtwelt
W. K. Giesa
Am Kreuzweg der Lichtwelt
Larashi erstarrte. Sein Körper verhärtete sich förmlich, und eine steile Falte erschien auf der Stirn des alten Mannes. Stimmen? Aber Daumenlos war doch stumm, war niemals in der Lage zu sprechen! Jemand musste bei ihm sein.
Ein mulmiges Gefühl machte sich in Larashi breit. Lautlos ließ er sich aus dem Sattel des altersschwachen Orhakos gleiten, das ihm für Besorgungen zur Verfügung stand. Sekunden später wusste er bereits, dass er einen vielleicht tödlichen Fehler begangen hatte. Er hätte im Sattel des großen, schnellen Laufvogels bleiben sollen. Denn im gleichen Moment, als er seine Last nicht mehr spürte, setzte der Vogel sich wieder in Bewegung und trabte gemütlich auf seinen Pferch zu. Ahnte das Tier nicht die Gefahr?
Etwas stimmte hier nicht, Larashi konnte es fast körperlich spüren. Wer sprach mit dem Stummen Großen? Er presste die Lippen zusammen. Was sollte er tun? Wo waren Gorano und Shieyo, die Gefährten?
Deckungslos stand er mitten auf dem Hof. Seine Augen erfassten jede Einzelheit in der Umgebung der Klause. So alt er auch war, und er hatte immerhin schon fünfzig Sommer kommen und wieder gehen sehen, seine Augen waren scharf geblieben. Der Diener des Stummen Großen fühlte, wie die Angst in ihm hochkroch und mit kalten Fingern nach seinem Herzen griff.
Die Stimmen verstummten. Sie waren aus der Klause gekommen, teilweise laut und erregt. Doch keine Antwort war ihnen zuteil geworden, soviel begriff der alte Diener, der mit seinen beiden Gefährten die Klause des Stummen Großen Daumenlos betreute. Sie alle waren schon alt, waren längst keine Kämpfer mehr, und ihre Muskeln konnten auch keine schwere Arbeit mehr leisten. Es war mehr ein Gnadenbrot, das sie von Daumenlos erhielten.
Lautlos bewegte sich Larashi, versuchte in den Büschen und Sträuchern Deckung zu gewinnen, die ein kleines Gärtchen umgaben. Wieder nannte er sich einen Narren, dass er abgestiegen war. Mit dem Orhako hätte er davonjagen und Hilfe holen können. Denn dass die Fremden nur einen Freundschaftsbesuch machten, wollte er nicht glauben. Etwas lag über der Klause. Es roch nach Gefahr und Tod.
Plötzlich sah er eine Bewegung. Genau in dem Gärtchen, in dem er sich verbergen wollte, sah er etwas.
Pferde!
Drei Tiere waren es, und die Angst in Larashi wurde immer größer. Die drei Reiter, die ihre Tiere hier abgestellt hatten, mussten aus einem fremden Land kommen. Denn Pferde waren hier unüblich, man bewegte sich per Vogel. Die Tiere waren versteckt worden. Jemand, der zufällig des Weges kam, sollte sie nicht erkennen.
Es musste eine Falle sein, und er war hineingetappt. Sofort wich Larashi zurück, suchte nach einem anderen Versteck und duckte sich schließlich in einen der trockenen Bewässerungsgräben. Gorano und Larashi hatten ihn in den letzten Tagen geschaufelt, um mehr Wasser zu dem Gärtchen führen zu können, aber noch war er nicht in Betrieb. Es war eine mehr schlechte als rechte Deckung, und er konnte nur hoffen, nicht entdeckt zu werden.
Er sah wieder zur Klause hinüber, in der Daumenlos wohnte. Genau in diesem Moment flog krachend die Tür auf. Ein Mann taumelte heraus. Es war Shieyo. Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf und brach lautlos zusammen. Aus seinem Rücken rann ein feiner Blutfaden hervor. Und hinter ihm tauchte eine riesige Gestalt auf, schwarz wie der Tod und das mordende Schwert in der Faust. Da wusste Larashi, dass Shieyo tot war.
*
Längst lag Lo-Nunga, die verbotene Stadt, hinter ihnen. Die drei Männer bewegten sich rasch genug durch die schroffe, zerklüftete Gebirgslandschaft von Rafhers Rücken südwärts. Die Landschaft machte einen toten, tristen Eindruck auf Mythor. Es gab kaum Pflanzen, nur hin und wieder eigenartig geformte Gräser und Moose, die zwischen den Felsen und auf dem harten Boden jenes Bergzugs, der Rafhers Rücken genannt wurde, ein kärgliches Dasein fristeten.
Mythor trieb es nach Süden, nach Logghard, und die beiden anderen Männer folgten ihm, um ihm zu helfen. Steinmann Sadagar, der Mann der schnellen Messer, und No-Ango, der Letzte vom Volk der Rafher.
Er war es, dem Mythor hin und wieder nachdenkliche Blicke zuwarf. Sadagar kannte er seit langem, den Rafher erst seit ein paar Tagen. Jenes Volk hatte seinen Namen erhalten, weil es zurückgezogen in dem Gebirge »Rafhers Rücken« lebte. Doch die Rafher gab es nicht mehr. Sie, die sich als Diener des Lichtboten bezeichnet hatten, hatten sich
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