Eis
I
Sie sind, mein Herr, ein Stein;
Eis, mein Herr …
Alexander S. Griboedow
Sie saßen sich gegenüber, zu beiden Seiten der breiten, kalten Schreibtischplatte. Im Grunde war das Gespräch beendet, und es gab nichts mehr zu sagen. Sie wußten das beide. Stojan Plećasch, genannt Stole, Generaldirektor der „Direktion für allgemeinen Verkehr“, erhob sich etwas aus seinem Sessel. Der Besucher, in sich zusammengesunken, gekrümmt, zögerte noch mit dem Aufstehn und versuchte es ein letztes Mal:
„Das heißt also – nichts?“
„Nichts! Ich kann dir nicht helfen.“
Das Zimmer atmete den komfortablen, angenehmen, ein wenig herben und bitteren Duft lackierter Edelhölzer und teueren, parfümierten Tabaks. Über den oberen Rand der ausgebreiteten, zurechtgelegten Morgenzeitung lief eine lange und fette Schlagzeile: WIEDER KEINE VERSTÄNDIGUNG! DER KALTE KRIEG GEHT WEITER. ZUVIEL EIS ZWISCHEN DEN GROSSMÄCHTEN AUFGESCHICHTET. Mechanisch, nur mit den Augen, überflog der Direktor die Zeilen. Schon begann er die Anwesenheit des verwahrlosten, schlecht gekleideten Bittstellers als unangenehm zu empfinden, und er dachte: Mein Gott, wie abgewetzt und alt ist er geworden! Er sieht aus, als wä re er mein Vater! Er schätzt sich nicht einmal selbst, wie sollen dann andere ihn schätzen …
Unangenehme Stille trat ein. Für einen Augenblick hörte man das leise Klappern einer Schreibmaschine hinter der gepolsterten Tür. Eines der Telefone klingel te, und der Direktor meldete sich. Die Sekretärin wollte ihm das Gespräch abnehmen. „In Ordnung, in Ordnung“, sagte er, damit auch der Besucher begreife, daß es Zeit zum Gehen sei. „Wir sind fertig. Ich komm schon. Spätestens in fünf Minuten.“ Er sah nach der Uhr – noch um einige Grade kälter und amtlicher. „Na gut, warum findest du dich nicht irgendwie selbst zurecht? Meinst du, die Leute hätten tatsächlich nichts Dringlicheres zu tun, als in einem fort darüber nachzudenken, was jeder Mensch braucht und welche Mißgeschicke ihn plagen? Es gibt ein Meer anderer Probleme. Da“, er zeigte auf die Akten vor sich, „siehst du, was das für ein Haufen ist? Kaum daß ich mir Zeit für ein Gespräch mit dir wegschnappen konnte. Ich konnte dich nicht abweisen. Aber ich weiß weder, was ich machen soll, noch kann ich dir helfen. Glaub mir, wir haben nichts mehr zu verhandeln. Hättest du mir vorausgemeldet, was du willst, hätt ich dir geraten, darüber nicht vergeblich Worte zu verlieren.“
„Ja, ja. Du wirst schon recht haben.“ Der Mann gab es zu. „Ich bin selber schuld; ich konnte mich nicht zurechtfinden. Ich danke dir! Und sei mir nicht bös. Verzeih, daß ich dich gelangweilt und dir soviel Zeit weggenommen habe.“
Er erhob sich, um zu gehen. Draußen verdüsterte sich der Himmel: das unbeständige Märzwetter drohte jäh umzuschlagen. Im Zimmer wurde es derart finster, daß man fast das Licht hätte einschalten müssen. Der Genosse Generaldirektor ging zum Fenster, um die Gardinen zurückzuziehen. Er blieb dort stehen und betrachtete durch die Scheiben die Straße, die Wagen und die vorbeieilenden Passanten.
„Nichts, ich bitt dich, bedank dich nicht. Schließlich sind wir alte Kameraden, und das ist das geringste, was ich für dich tun konnte. Was willst du – man muß sich irgendwie zurechtfinden; es nutzt nichts, sich auf Verdienste und Freundschaften zu berufen; wir können uns nicht allesamt in Wohltäter und Gouvernanten verwandeln. Man muß real blicken. Objektiv. Begreifen, daß das Leben von frostigen, unbestechlichen, zuweilen auch grausamen Gesetzen beherrscht wird; von der eisernen Logik der Entwicklung und den kalten Gesetzen der Erhaltung. Hast du heut morgen die Überschriften in den Zeitungen gelesen: ‚Allgemeine Abkühlung der Beziehungen … Auf allen Seiten die Schneestürme und Fröste des kalten Krieges …’ Mein Lieber, nur Kälte und Eis! Allumfassende Kälte und allumfassendes Eis! In der Welt, in der Gesellschaft, draußen in der Natur und auch hier zwischen uns und in uns. Da – dem Kalender und unseren Erwartungen nach müßte heute der Frühling beginnen. Statt dessen siehst du, was passiert: abermals Winter. Schnee, Schnee und Eis. Kälte und Frost. Eiszeit!“
Im verdüsterten Zimmer wurde es jäh kalt, und beide – der kräftige und breitschultrige Direktor und der magere, verstummte Bittsteller – erzitterten und schüttelten sich im gleichen Augenblick. Draußen auf der Straße
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