Eiskalte Hand
als dass sie locker trabten. Auch die Reiter spürten die Müdigkeit in ihren Muskeln und Knochen – insbesondere die unter ihnen, die sonst wenig im Sattel saßen. Dafür wurden sie jetzt mit einem Ausblick belohnt, der sie für alle Strapazen der Reise entschädigte. Der Ozean lag in einiger Entfernung vor ihnen. Ein tiefes Blau, das bis zum Horizont reichte. Weiße Schaumkronen markierten die Kämme der Wellen, die langsam auf den Strand zurollten. Ranjas Herz hüpfte vor Freude in seiner Brust. Alle Müdigkeit fiel schlagartig von ihm ab. Sein Meer! Pirlia erhob sich direkt vor ihnen. Zum Greifen nah, obwohl er wusste, dass es noch zwei oder drei Stunden bis dorthin waren. Die Stadt schmiegte sich elegant um eine kleine Bucht, die zugleich als sicherer Hafen fungierte. Große quadratische Wehrtürme ragten an strategischen Stellen auf und drohten selbstbewusst jedem potenziellen Angreifer. Diese Bauweise passte nicht zu Quandala, wo alles eher rund, geschwungen und verschnörkelt daherkam. Aber die gesamte Architektur Pirlias orientierte sich wenig an quandalischen Maßstäben. Die Gebäude wiesen einen schlichten und funktionalen Baustil auf, überwiegend aus einem sandfarbenen Stein errichtet. Natürlich hatten einzelne Adelige prunkvolle Verzierungen an Türmen und Gebäuden angebracht. Doch wirkten diese eher deplatziert. Als hätte da im Nachhinein einer das in sich stimmige Bild verschandelt.
Pirlia war schon sehr alt. Die Stadt stand der Überlieferung nach schon zu Zeiten, als vom Quandalischen Reich noch niemand redete. Keiner wusste, wer sie gegründet und erbaut hatte. Aufgrund der Bauweise munkelten manche, dass es Nordmänner gewesen seien, die vor langer Zeit hier einen Stützpunkt für ihre Seereisen eingerichtet hätten. Andere tippten eher auf längst vergessene Stämme aus dem Süden. Und es gab sogar einige, die nicht-menschliche Wesen mit dieser Stadt in Verbindung brachten. Doch wie dem auch sei – Pirlia bot einen beeindruckenden Anblick. Und das obwohl – nein: weil ihr der übliche Pomp und Prunk fehlte. Alles wirkte kantig und geradlinig. Zugleich fügte es sich harmonisch ineinander. Als wäre die Stadt nicht über Jahrunderte gewachsen, sondern aus einem Guss entstanden und seitdem unberührt geblieben.
Im Hafen lagen die Schiffe dicht gedrängt. Bewegung gab es hier auffällig wenig. Das passte nicht zu dem Bild, das Ranja von einer Handels- und Hafenstadt in Erinnerung hatte. Hier tobte immer das Leben. Schiffe kamen und segelten hinaus in die weite Welt. Hunderte Hafenarbeiter be- und entluden in einem dichten Gewusel die Schiffe. Von all dem war jetzt nichts zu spüren. Der Hafen wirkte ruhig, fast so, als ob er schlief – und das am helllichten Tage. Weiter draußen vor der Stadt ankerten etliche große Schiffe. Breit und massig. Edelstahlplatten verkleideten die Außenseiten, und am Bug ragten meterlange metallbeschlagene Rammsporne hervor. Auch der nautisch Unerfahrenste erkannte sofort, dass es sich um Kriegsschiffe handelte. Eine ganze Flotte. Die Schiffe waren halbkreisförmig um die Einfahrt zum Hafen angeordnet. Ihre Bugspitzen zeigten von der Stadt weg. Auf welche Bedrohung sie wohl warteten? Ja, was konnte sie überhaupt bedrohen? Huan berührte den Beschwörer in diesem Moment an der Schulter. Er zuckte leicht zusammen. Mit ausgestrecktem Arm zeigte der Leutnant auf einen Bauernhof unweit der Stadt. Das Hauptgebäude lag in Trümmern. Und auch die Nebengebäude hatten offenbar so einiges abbekommen. „Katapulte“, interpretierte Huan den Anblick, „Irgendjemand hat da angegriffen.“ Ranja blieb nichts anderes übrig als zu nicken. Seine Seefahrerromantik hatte gerade einen Dämpfer erhalten.
Die zweieinhalb Stunden, die sie noch bis zum Stadttor brauchten, zogen sich schier endlos hin. Huan war neugierig und wollte erfahren, was hier vor sich ging. Ranja wollte einfach nur wieder in einem Bett schlafen und die Seeluft genießen. Als sie dann das Stadttor erreichten, stellten sie fest, dass es geschlossen war. Verteidigungsanlagen waren links und rechts davon errichtet. Und ein stattlicher Trupp Soldaten hatte sich dahinter verschanzt. Vorsichtig ritten die Ankömmlinge näher. Einige der Soldaten traten jetzt aus ihrer Deckung und stellten sich vor die Reisenden. „Halt!“, befahl ein Unteroffizier und hob demonstrativ die Hand empor. Brav leisteten die Reiter seinem Befehl Folge. „Wer seid ihr und was wollt ihr hier in Pirlia?“ Der
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