Eiskalte Hand
Oberfläche verwittert von Sonne, Wind und Regen. Gleichzeitig spürte er eine Leichtigkeit, wie sie so gar nicht zu dem schweren Material passte. Er versuchte im Geist zu hüpfen. Der Stein erzitterte leicht. Wieder sprang er in Gedanken. Jetzt bewegte der Felsbrocken sich ein kleines Stück. Noch einmal sprang er, dieses Mal stärker. Und gleich noch einmal. Jetzt konnte er die Bewegungen des Steins deutlich erkennen. Ja, so funktionierte es. Er hatte das Rätsel gelöst, das Geheimnis gelüftet. ‚Probieren wir etwas Schwierigeres!‘ Seine Euphorie stieg. Es kostete ihn nicht die geringste Mühe, seinen Geist vollständig leer zu machen. Er dachte an einen Vogel, der majestätisch in der Luft schwebte. Leicht, von der Luft förmlich getragen, ließ er ihn mit ausgebreiteten Schwingen schweben. Ranja merkte, wie auch der Stein sich immer leichter anfühlte. Nahezu schwerelos. Ganz langsam hob er vom Boden ab. Stieg allmählich in die Luft auf und schwebte in rund fünfzig Zentimetern Höhe. Ein erhabenes Gefühl. Der Beschwörer nahm jetzt alles aus der Perspektive des Steins heraus wahr, als ob sich genau dort seine Augen und Ohren befänden. Eine Spinne huschte über den Boden, wohl auf der Suche nach etwas zu fressen. Impulsiv folgte er dem Tier in Gedanken und der Stein bewegte sich tatsächlich mit. Er flog hinter der Spinne her, bis er sich schließlich direkt über ihr befand. ‚Jetzt!‘ Der Stein fiel schlagartig zu Boden. Ranja schaute sich hastig im Lager um. Doch außer ihm hatte niemand etwas davon mitbekommen. Keiner hatte das leise Knacken gehört, als der Chitinpanzer der Spinne brach und sie erbarmungslos zerquetschte. Zufrieden lehnte sich der Beschwörer zurück. Heute würde er sicher ruhig schlafen können. Kurz darauf weilte er auch schon im Reich der Träume und schwelgte in kommenden Heldentaten.
Kapitel 26
Bis zum Meer war es jetzt nicht mehr weit. Ranja sog die Luft tief in seine Lungen. Es roch nach Salzwasser und Weite. Ein Genuss. Bald würden sie das Wasser mit eigenen Augen sehen können. Vielleicht nur noch über den Hügel dort vorne... Der Beschwörer liebte das Meer. Schon als Kind gab es nichts Schöneres für ihn, als an die Küste zu reisen – auch wenn das nur sehr selten vorkam. Denn seine Eltern waren zwar wohlhabend, aber hatten in der Regel wenig Zeit und Sinn für solche Unternehmungen. Umso mehr genoss Ranja es, wenn er tatsächlich einmal die Gelegenheit bekam, am Meer zu stehen und in die schier unendliche Weite hinauszuschauen. Wie gerne wäre er auf einem Schiff dort hinausgefahren, hätte sich den Wind um die Nase wehen lassen; fremde Länder gesehen, große Abenteuer erlebt. In seiner kindlichen Phantasie hatte er die aufregendsten Reisen unternommen. Und der Held war selbstverständlich immer er. Wer auch sonst? Ranja lächelte selig. Seine Kindheit kam ihm wie eine ferne heile Welt vor. Alles erschien klar und einfach, nicht so verworren und undurchsichtig wie die Gegenwart. Warum konnte er nicht einfach wieder dorthin fliehen?
Auf der Kuppe des Hügels vor ihnen erschien gerade eine Gruppe Reiter. Sie trugen lange Lanzen, an denen bunte Bänder in den Farben des Hauses Ai-Shun im Wind wehten. Ihre silbernen Rüstungen glänzten in der Nachmittagssonne. „Schon wieder eine Patrouille?“, sprach Huan den Beschwörer von der Seite an und holte ihn damit vollends in die Gegenwart zurück. „Das ist jetzt schon die dritte innerhalb der letzten Stunde. Ein bisschen viel. Findest du nicht auch?“ Ranja wusste nicht so genau, was er antworten sollte. Mit all diesem Militärkram kannte er sich nicht aus. Aber er wollte sich auch keine Blöße geben vor dem Offizier. Also hob er an zu einem langgezogenen „Joah“. Der Soldat war mit dem Gedanken inzwischen längst weiter. „Irgendetwas stimmt da nicht.“, meinte er, und nach einer kurzen Denkpause fügte er noch hinzu: „Und es sieht nicht so aus, als ob die jemanden suchen würden. Sonst würden die ja jede Reisegruppe anhalten.“ Der Beschwörer nickte brav. Das mochte alles seine immanente Logik haben. Ihm allerdings erschloss sie sich nicht. Und überhaupt erachtete er das alles gar nicht für so wichtig. Wenn die Soldaten ihre Arbeit sorgfältig machten, dann konnte er daran nichts Merkwürdiges sehen. Im Gegenteil.
Wenig später hatten sie die Kuppe des Hügels erreicht. Ihre Pferde schnaubten vor Erschöpfung von der fünftägigen Reise und schlichen die Anhöhe mehr herauf,
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