Im Zeichen der Krähe 2: Die Totenhüterin (German Edition)
1. KAPITEL
I m Licht der Fackeln, die das Lager der hundert Kalindonier umgaben, konnte Rhia die Verbrennungen erkennen, die das Seil auf Mareks Hals hinterlassen hatte.
Der Mann, der bald ihr Ehemann sein würde, schlief zum ersten Mal seit mehreren Nächten ruhig neben ihr. Vielleicht hatte die Erschöpfung ihm die Albträume genommen, oder sie waren ihm einfach nicht mehr anzumerken.
Die feuchte Luft legte sich wie eine zweite Haut über sie. Weit über ihnen strich eine Brise durch die Wipfel der Pinien und Fichten, erreichte jedoch nicht den Boden.
Rhia schob die Decke zurück, krempelte sich die Ärmel hoch und streckte sich, um sich ein wenig abzukühlen. Es brachte nichts. Die Wärme des Sommers hatte selbst den Wald in den hohen Bergen nahe Kalindos erreicht.
Plötzlich hörte sie ein Flüstern. Rhia zuckte zusammen, als hätte sie einen Nadelstich erhalten. Nicht schon wieder. Sie hielt sich die Ohren zu, als würde das etwas nützen. Bitte, lasst mich schlafen.
Doch die Stimmen der Toten gewannen in Rhias Träumen so viel Kraft, dass ihr unzufriedenes Grollen zusammenhanglose Worte bildete. Wenn sie wach war, flüsterten sie, manchmal schwiegen sie sogar, wenn sie laut sprach oder eine Melodie vor sich hin summte, um sich abzulenken. Ihre Reisegefährten mochten das nicht, da ihre Stimme in etwa so melodisch war wie die ihres Schutzgeistes.
Krähe.
Nur wenige Monate waren vergangen, seit der Geist ihr seine Gabe verliehen hatte. Und doch trug sie sein dunkles Geschenk schon ein Jahrzehnt lang in sich – seit sie acht Jahre alt gewesen war und zum ersten Mal gehört hatte, wie Krähe gekommen war, um eine Seele auf die andere Seite zu tragen.
Das Flüstern veränderte sich, und Rhia bemerkte erleichtert, dass es von einer lebenden Person stammte. Sie drehte sich auf den Bauch und spähte in die Dunkelheit.
Hinter dem Licht der Fackeln gingen ein Mann und eine Frau gemeinsam Patrouille. Ihre Bogen trugen sie so selbstverständlich, dass sie fast Teil ihres Körpers geworden zu sein schienen. Sie alle waren seit dem Angriff der Nachfahren auf Rhias Heimatdorf Asermos, der zehn Tage zuvor stattgefunden hatte, wachsamer geworden. Mithilfe der Kalindonier, mit denen sie jetzt reiste, hatten die Asermonier die Invasion der Nachfahren abgewehrt, doch der Preis dafür war hoch gewesen.
Rhia wischte sich eine verschwitzte braune Locke, die ihr über die Augen gefallen war, aus dem Gesicht. Ihr Haar war jetzt, da sie es sich aus Trauer abgeschnitten hatte, zu kurz, um es zusammenzunehmen.
Erneut waren die Stimmen zu hören. Dieses Mal waren sie lauter. Eine Welle der Übelkeit erfasste Rhia.
Sie setzte sich auf. Eine Hand griff nach ihrem Arm, so fest wie eine Schnappfalle aus Eisen. Sie unterdrückte einen Aufschrei und sah hinab in Mareks blaugraue Augen, aus denen er sie verwirrt anstarrte. Schnell ließ er sie los und blinzelte, um wach zu werden.
„Tut mir leid“, flüsterte er. „Wohin willst du?“
Sie wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. „Mir ist schlecht.“
„Wegen des Kindes?“
„Dafür ist es zu früh.“
„Wieder die Stimmen?“
„Es fühlt sich so an, als wären Fliegen in meinem Schädel gefangen.“ Sie rieb sich das Ohr, als würde so das Jucken tief in ihr gelindert. „Coranna hat gesagt, so ist es die ersten paar Monate immer, aber ich glaube, ich ertrage es keine Stunde länger.“ Rhia war erst seit zwei Wochen schwanger, und die Stimmen waren bisher das einzige Anzeichen dafür, dass sie in die zweite Phase ihrer Gabe eingetreten war.
Ihre neuen Kräfte verlangten, dass sie nach Kalindos zurückkehrte, um wieder in die Lehre bei ihrer Mentorin zu gehen. Im Augenblick allerdings wünschte Rhia sich, sie wäre noch in Asermos auf der Farm ihres Vaters, statt eine weitere Nachtin diesem moskitoverseuchten Wald zu verbringen. Normalerweise brauchte man für die Reise nach Kalindos zu Pferd nur einige Tage. Doch weil sie die in der Schlacht Verletzten transportierten, brauchten sie dreimal so lang.
Sie schlug die Decke zurück. „Ich gehe zum Fluss, um mich abzukühlen.“
„Ich komme mit.“ Marek setzte sich auf.
„Du solltest dich ausruhen. Ich nehme Alanka mit.“
„Ich brauche auch ein Bad.“ Er zog die Beine unter der Decke hervor und zuckte zusammen.
„Aber dann wird dein Verband nass.“
„Ich stehe einfach auf einem Fuß.“
Im Stillen froh darüber, dass Marek sie begleiten würde, nahm Rhia seine Hand und half ihm auf. Er warf sich
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