Eiskalte Hand
Wenn es ihn denn glücklich machte…
In ihrem Gedächtnis suchte sie nach dem Namen Ru Tan. Vor zehn Jahren war noch Ai Fen Meister des Ordens. Lange Jahre hatte er dem Orden vorgestanden, mehrere Jahrzehnte. Mia kannte gar keinen anderen Meister als ihn. Solange sie zurückdenken konnte, stellte er das Oberhaupt des Klosters dar. ‚Was wohl aus ihm geworden ist?‘, fragte sie sich, obwohl sie die Antwort letztlich genau kannte. Denn in solch einem Amt blieb man bis zum Lebensende. Und wenn jetzt ein anderer die Position innehatte… Sie brauchte den Gedanken nicht zu Ende führen. ‘Mögen die Götter seiner Seele gnädig sein!‘ In das Umfeld von Ai Fen gehörte auch Ru Tan. Er war einer seiner besten Schüler und ein enger Vertrauter des alten Meisters. Seine Ernennung zum neuen Meister erschien Mia als logische und vermutlich auch passende Wahl. Sie selbst hatte zwar nur wenig mit diesem Mann zu tun gehabt. Aber nach dem, was sie über ihn wusste, handelte es sich um einen besonnenen und intelligenten Mann, der inzwischen die Vierzig um einige Jahre überschritten haben musste. Mia wartete gespannt auf das Gespräch mit ihm und fragte sich, ob er ihr wohl helfen würde. Doch bis dahin stärkte sie sich erst einmal mit dem Frühstück. Danach legte sie die Ordenstracht an. Jeder Handgriff saß noch – auch nach so langer Zeit. Die Tracht fühlte sich merkwürdig an auf ihrer Haut. Irgendwie falsch. Am liebsten hätte sie sie gleich wieder ausgezogen. Doch das wäre taktisch nicht klug gewesen. Also fügte sie sich.
Pünktlich eine Stunde später fand sie sich in den Privatgemächern des Ordensmeisters ein. Ru Tan bewohnte zwei schlicht eingerichtete Zimmer im südöstlichen Teil des Klosters. Als sie eintrat, fand sie die Räume leer vor. Auf einem kleinen Hausaltar glommen zwei Räucherstäbchen und verbreiteten einen süßlichen Duft. Das roch irgendwie…heimisch. Auf der gegenüberliegenden Seite des ersten Raumes stand eine Tür weit offen. Sie führte auf einen kleinen Balkon. Vorsichtig durchquerte Mia den Raum. Nicht, weil sie einen Angriff befürchtete, sondern vielmehr aus Respekt und Achtung vor dem, was ungreifbar in diesem Räumlichkeiten hing. Neugierig blickte sie durch die Tür hinaus. Meister Ru Tan saß dort draußen auf einem Kissen im Lotussitz, die Hände vor sich ausgebreitet mit den Handflächen nach oben. Seine Augen waren geschlossen. ‚Er meditiert.‘, erkannte Mia sofort und blieb ganz still stehen, um ihn dabei nicht zu stören. Sie merkte, wie sie automatisch in alte und eigentlich doch längst vergessene Verhaltensmuster zurückfiel, ohne sich ernsthaft dagegen wehren zu können. Um sich abzulenken, ließ sie den Blick schweifen. Vom Balkon aus konnte man weit über das quandalische Reich schauen. Die Morgensonne tauchte die Landschaft in ein weiches, freundliches Licht. Gar nicht weit entfernt erhob sich die Hauptstadt des Imperiums in ihren gewaltigen Ausmaßen. Von hier oben wirkten die zahllosen Gebäude klein und modellhaft. Wie ein Spielzeug für ein verwöhntes Aristokratenkind. Impulsartig hätte Mia am liebsten die Hand ausgestreckt, um danach zu greifen. Doch sie wusste natürlich, dass es mindestens eine halbe Tagesreise zu Pferd vom Fuße des Berges bis hin in die Stadt war.
In diesem Moment öffnete Ru Tan die Augen und schaute Mia mit freundlichem, offenem Blick an. Ein stattlicher Mann. Muskulös und gutaussehend, mit sehr weichen und sanften Gesichtszügen. Güte sprach aus seinen großen dunklen Augen. Den Kopf hatte er im Gegensatz zu vielen der Mönche nicht rasiert. Vielmehr trug er langes hellbraunes Haar, das er hinten zu einem Zopf geflochten hatte. Ein deutliches Zeichen dafür, dass er seinen eigenen Kopf besaß. „Ah, ist die verlorene Schwester wieder auf den Pfad des Drachens zurückgekehrt?“, fragte er mit einem leicht schelmischen Unterton. Mia gefiel es nicht, so angeredet zu werden. „Mit Verlaub, hoher Meister,“, sprach sie ihr Gegenüber förmlich an und verneigte sich dabei gebührend, „ich gehöre dem Orden nicht mehr an und bin von daher auch keine Schwester mehr.“ Ru Tan lächelte sanft. „Ihr seid hier groß geworden, habt den Pfad in euch aufgenommen. Und auch, wenn ihr aus freien Stücken unser Heim verlassen habt, so betrachte ich euch dennoch weiterhin als liebe Schwester, mit der wir uns verbunden fühlen. Seht es nicht als Bürde, sondern als Ehre.“ Mia nickte einfach nur. Was sollte sie auf diese Worte noch
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