Eiskalte Hand
ab.
Ob Mias Geschichte auf den Archivar Eindruck gemacht hatte, ließ sich an seinem Gesicht nicht ablesen. Er blieb die ganze Zeit über weitgehend regungslos. Als die junge Frau schließlich mit ihrem Bericht fertig war, wiegte Pai Pey gedankenverloren seinen Kopf hin und her. „Das ist wirklich eine abenteuerliche Geschichte. Und alles schon sehr lange her. Aber ich denke, dass ich dir helfen kann.“ Bei diesen Worten zuckte Mia merklich zusammen. Voller Erwartung schaute sie den Archivar an. Der lehnte sich in seinem Sessel zurück, nahm noch einen Schluck Tee und begann mit seiner Geschichte: „Damals vor rund fünfundzwanzig Jahren brachte dich ein Mann hier in das Kloster. Er war fein gekleidet, gehörte offenbar dem höheren Adel an. Das ist nicht unbedingt etwas Ungewöhnliches; denn so mancher Adlige bringt eines seiner Kinder zu uns ins Kloster. Aber hier war etwas anders. Er bestand darauf, mit mir, dem Archivar, zu sprechen. Dann sagte er mir, dass du ein besonderes Kind seist und wir gut Acht auf dich geben sollen. Die Götter hätten noch große Pläne mit dir. Ich hab das damals als Gerede abgetan. Jeder hält sein Kind für etwas Außergewöhnliches. Schließlich gab er mir mit einer großzügigen Spende für das Kloster ein Bündel Papiere und prophezeite, dass irgendwann der Zeitpunkt kommen würde, an dem ich es dir übergeben solle. Wann das sein würde, das würde ich schon von ganz alleine merken. Und nun scheint es tatsächlich so gekommen zu sein.“ Mia fühlte ein Kribbeln am ganzen Körper. Sie war so aufgeregt wie kaum jemals zuvor in ihrem ganzen Leben. Sollte dies endlich der Durchbruch sein? Würde sie die Informationen bekommen, die sie brauchte? „Darf ich die Papiere sehen?“ Ihre Frage kam überraschend zögerlich. „Selbstverständlich.“, gab der Alte zurück. „Gib mir etwas Zeit, damit ich sie holen kann. Die Archive sind weitläufig, und in meinem Alter dauert es ein wenig, bis man an der richtigen Stelle angekommen ist.“ Mühsam erhob er sich aus dem Sessel und schlurfte zur Tür. „Trink noch einen Tee. Das verkürzt die Wartezeit.“
Die nächsten fünfzehn Minuten erschienen Mia wie eine kleine Unendlichkeit. Ungeduldig klopfte sie mit ihren Fingern auf der Tischplatte und probierte alle nur denkbaren Rhythmen dabei aus. Dann endlich kehrte Pai Pey zurück und hielt ein Bündel in Händen, das in einen ledernen Einband gewickelt war. „Ich hab es gefunden“, stellte er fröhlich fest. „In einem geordneten Archiv kommt eben nichts weg.“ Mit einer Geste, die für Mia im höchsten Maße feierlich war, überreichte er ihr das Päckchen. „Was deine Neugier bezüglich des Hauses Xi-Yang anbetrifft, so muss ich dich für den Moment vertrösten und noch ein bisschen ausführlicher suchen. Vielleicht finde ich noch weitere Informationen, die dir helfen können. Wenn es überhaupt etwas dazu gibt, dann ist es hier in meinem Archiv zu finden.“ Verschmitzt grinste er die junge Frau an. Auf einmal wirkte er gar nicht mehr so alt.
Am liebsten hätte Mia den Archivar umarmt. Doch ihr Anstandsgefühl hielt sie davon ab, diesem Impuls nachzugeben. So was gehörte sich einfach nicht. Stattdessen verneigte sie sich tief vor ihm. „Ich danke euch von Herzen. Ihr habt mir sehr geholfen und mir neue Hoffnung geschenkt. Ich würde mich freuen, später noch mehr von euch zu hören.“ „Sobald ich etwas herausgefunden habe, werde ich dir bescheid geben.“, erwiderte der Alte und verneigte sich ebenfalls, „Und jetzt willst du sicher das Päckchen öffnen. In deinem Zimmer wirst du ungestört sein.“ So gerne Mia auch sofort die Dokumente gelesen hätte, der Wink mit dem Zaunpfahl war nicht zu überhören. Also verabschiedete sie sich vom Archivar und marschierte zügig den Weg zurück in ihr Zimmer. Dort angekommen öffnete sie mit etwas schwitzigen Händen den ledernen Einband. Er roch alt und muffig. Schließlich hatte das Ganze ein Viertel Jahrhundert im Archiv gelegen, ohne dass jemand es in die Hand genommen hatte. Vorsichtig zog Mia die Papiere aus dem Einband heraus und breitete sie sorgfältig nebeneinander auf dem Tisch aus. Nun konnte sie endlich zu lesen beginnen. Bei den meisten Papieren handelte es sich um amtliche Dokumente, die zweifelsfrei ihre adlige Herkunft bewiesen. Sie war Wu Jen aus dem Hause Lun. Aus ihrer Ahnung wurde nun Gewissheit. Doch wirklich Neues erfuhr sie auf diese Weise nicht. Ein anderes Blatt war mit ‚Besitzurkunde‘
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