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Eisprinzessin

Eisprinzessin

Titel: Eisprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Graf-Riemann
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und eine Fahndungseinleitung war es immer noch zu früh. Brunner solle in der Zeit seinen Bürokram erledigen und sich im Übrigen vorerst raushalten.
    Als Meißner zu Marlu in den Dienstwagen stieg, sah sie stur geradeaus und strafte ihn mit Missachtung.
    »Ist dir das Schokocroissant auch nicht bekommen?«, fragte er. Er ahnte zwar, dass es nicht die Frage war, die sie gern gehört hätte, aber vielleicht konnte er sie damit wenigstens zum Lachen bringen.
    Der Blick zum Fahrersitz hinüber genügte, um zu erkennen, dass ihm das nicht gelungen war.
    »Sprichst du jetzt nicht mehr mit mir?«, versuchte er es noch einmal.
    »Du weißt auch nicht, was du willst«, antwortete sie.
    Als er seine Hand auf ihren Oberschenkel legte, schlug sie ihm kräftig auf die Finger. Sein »Aua!« quittierte sie mit einem zufriedenen Grinsen. Sie hatte ihn mit der Schließe ihrer Armbanduhr an den Fingerknöcheln erwischt. Meißner zog die Hand zurück und rieb sich die schmerzende Stelle.
    »Ich hab mein Handy –«, setzte er zu einer Erklärung an.
    »Ich will gar nicht wissen, wo du dein Handy gelassen hast, und auch nicht, wo du gewesen bist!«, schrie sie. »Lass mich einfach in Ruhe, okay?«
    Sie fuhr die Harderstraße stadtauswärts. An einem Penny-Markt bat Meißner sie, kurz anzuhalten, damit er sich etwas zu trinken holen konnte. Wegen des Schokocroissants. Als er zurückkam, wirkte Marlu schon etwas weniger angriffslustig.
    »Hast du das gesehen?«, fragte sie ihn.
    »Was denn?«
    Sie zeigte auf einen Aushang an der Eingangstür des Supermarktes. An einem Baum daneben hing derselbe Zettel. »Vermisst«. Darunter das Bild einer vielleicht siebzigjährigen Frau mit weißem Haar, die eine große Hornbrille und einen orangefarbenen Strickpulli mit Lochmuster trug.
    »Steht da, wie lange sie schon weg ist?«, fragte Meißner.
    »Eine Woche«, sagte Marlu. Entweder hatte sie deutlich bessere Augen als er, oder sie war zum Lesen des Zettels ausgestiegen.
    »Vielleicht ist sie ja längst wieder zu Hause und die Angehörigen haben nur vergessen, die Zettel abzuhängen.«
    »Wahrscheinlich ist sie krank, verwirrt. Warum sonst sollte sie einfach fortgehen?«
    »Das kann man nie wissen.«
    »Aber wo sollte sie denn allein hingehen?«
    »Vielleicht war es auch ein Suizid, wer weiß?«
    »Schrecklich, oder? Ich meine, die Vorstellung, dass so ein älterer Mensch … Aber es wird doch nach ihr gesucht?«
    »Zumindest sind die Polizeidienststellen informiert.«
    »Aktiv suchen ist aber was anderes.«
    »Stimmt«, antwortete Meißner. »Aber wir wären ja mit nichts anderem mehr beschäftigt, wenn wir jeden Verschwundenen aktiv suchen würden, wie du sagst.«
    »Jetzt übertreibst du aber«, protestierte Marlu.
    »Hast du eine Ahnung, wie viele Menschen in Deutschland täglich verschwinden?«
    »Einige, das ist mir schon klar.«
    »Ungefähr hundertfünfzig, es können aber auch mehr sein. Die Statistik, die ich vor Kurzem gelesen habe, ist schon etwas älter. Stell dir das mal vor! Nach Kindern, Kranken und möglichen Opfern einer Gewalttat wird gesucht, aber all die anderen müssen von selbst wiederkommen.«
    »Das tun sie ja meistens auch.«
    »Klar. Die Hälfte von ihnen taucht innerhalb einer Woche wieder auf. Und noch einmal zwanzig Prozent innerhalb eines Monats. Innerhalb eines Jahres sind sogar fünfundneunzig Prozent von ihnen wieder da.«
    »Und der Rest?«
    »Der Rest bleibt verschwunden. Nach dieser Statistik gelten etwa sechstausend Menschen in Deutschland als vermisst.«
    »Das ist ja ein ganzes Stadtviertel!«
    Meißner nickte.
    »Gibt es bei Vermissten eigentlich auch so etwas wie eine Verjährungsfrist?«
    »Sie bleiben dreißig Jahre in einer separaten Liste in den Fahndungscomputern. Alle Leichenfunde werden mit dieser Liste abgeglichen. Wenn diese Zeit um ist, gibt es den verschwundenen Menschen nicht mehr, jedenfalls nicht für die Polizeibehörden.«
    »Könntest du dir vorstellen, einfach so zu verschwinden, wegzugehen, ohne dich abzumelden?« Marlu sah ihn an.
    »Hab ich mir noch nie überlegt.«
    »Ich könnte mir das schon vorstellen. Manchmal machst du so kleine Probeläufe zum Verschwinden, stimmt’s?«
    »Jetzt übertreibst du aber, Marlu.« Was war denn das jetzt wieder für ein seltsames Gespräch? Dass sie auch jedes Thema auf die persönliche Ebene ziehen musste.
    »Telefon ausschalten, nicht erreichbar sein, sich nicht melden, nicht sagen, wo man ist. Das sind doch fast schon so kleine Tests.«
    »Du

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