Elantris
wussten nichts von den gegenwärtigen Ereignissen.
»Sie werden ...«, setzte der Dula an.
»Mylord Raoden!«, unterbrach ihn jäh eine Stimme - eine Stimme, die Raoden auf der Stelle wiedererkannte.
»Ashe?«, fragte er begierig und sah sich suchend nach dem Seon um.
»Euer Majestät!« Ashe kam über den Eingangsplatz geflitzt. »Ein Seon hat sich soeben mit mir in Verbindung gesetzt. Die Prinzessin! Sie ist in Teod, Mylord. Mein Königreich ist ebenfalls angegriffen worden!«
»Teod?«, fragte Raoden entgeistert. »Wie im Namen Domis ist sie dorthin gelangt?«
Sarene wich zurück. Sie wünschte sich verzweifelt eine Waffe. Die Stadtbewohner bemerkten Dilaf und seine Krieger und stoben verängstigt auseinander, als sie die eigenartig entstellten Körper und boshaften Augen der Fjordeller gewahrten. Sarene hätte sich ihnen am liebsten angeschlossen, aber damit hätte sie sich nur direkt in Dilafs Hände begeben. Die Krieger des kleinen Mönches verteilten sich, um ihr sämtliche Fluchtwege abzuschneiden.
Dilaf kam auf sie zu. Sein Gesicht war voll getrockneten
Blutes, der nackte Oberkörper schwitzte in der kalten teoischen Luft und ließ die Wülste der verschlungenen Muster unter der Haut an seinen Armen und seiner Brust erkennen. Die Lippen hatte er zu einem hämischen Grinsen verzogen. In diesem Augenblick wurde Sarene klar, dass dieser Mann das Schrecklichste war, was sie jemals zu Gesicht bekommen würde.
Raoden erklomm die Mauer von Elantris, je zwei Stufen auf einmal. Seine nun ganz entwickelten elantrischen Muskeln arbeiteten schneller und ausdauernder, als es seine Muskeln vor der Shaod getan hatten.
»Sule!«, rief Galladon besorgt und eilte ihm hinterher.
Raoden reagierte nicht. Er kam oben auf der Mauer an und schob sich gewaltsam durch die unzähligen Menschen, die auf die Überreste von Kae hinabblickten. Die Menge teilte sich, als die Leute erkannten, wer er war. Manche knieten nieder und murmelten: »Euer Majestät.« Sie klangen ehrfürchtig. In ihren Augen verkörperte er die Rückkehr zu ihrem früheren Leben. Einem hoffnungsvollen, schwelgerischen Leben, in dem es den Menschen weder an Nahrung noch an Zeit gemangelt hatte. Einem Leben, das während zehn Jahren Tyrannei beinahe in Vergessenheit geraten war.
Raoden achtete nicht auf die Leute, sondern lief weiter, bis er auf der nördlichen Mauer stand, von der aus man auf das weite blaue Fjordische Meer blickte. Jenseits dieses Gewässers befand sich Teod. Und Sarene.
»Seon«, befahl Raoden, »zeig mir die genaue Richtung, in der sich die Hauptstadt von Teod von hier aus befindet.«
Ashe schwebte einen Moment in der Luft hin und her, dann bewegte er sich an eine Stelle vor Raoden und markierte auf diese Weise einen Punkt am Horizont. »Wenn Ihr nach Teod segeln wolltet, Mylord, würdet Ihr in diese Richtung aufbrechen.«
Raoden nickte. Er vertraute dem angeborenen Orientierungssinn des Seons. Er fing zu zeichnen an. Mit fliegenden Händen erschuf er das Aon Tia. Seine Finger fuhren Muster nach, die er auswendig gelernt hatte, ohne zu glauben, dass sie ihm jemals von Nutzen sein würden. Nun, da Elantris die Kraft der Aonen nährte, erschienen die Linien nicht länger nur in der Luft, wenn er sie zeichnete, sondern sie explodierten geradezu. Licht strömte aus dem Aon, als rissen seine Finger winzige Löcher in einen mächtigen Damm und erlaubten nur einem kleinen Teil des Wassers hindurchzuspritzen.
»Sule!«, rief Galladon, der ihn endlich eingeholt hatte. »Sule, was ist los?« Dann erkannte er das Aon anscheinend wieder, denn er fluchte. »Doloken, Raoden, du weißt nicht, was du tust!«
»Ich reise nach Teod.« Raoden zeichnete weiter.
»Aber Sule«, protestierte Galladon. »Du selbst hast mir erzählt, wie gefährlich das Aon Tia sein kann. Wie war das gleich noch? Wenn man nicht die genaue Entfernung kennt, die man zurücklegen muss, kann man sterben. Du darfst dich nicht blindlings in die Sache stürzen. Kolo?«
»Es geht nicht anders, Galladon«, sagte Raoden. »Ich muss es zumindest versuchen.«
Galladon schüttelte den Kopf und legte Raoden eine Hand auf die Schulter. »Sule, ein sinnloser Versuch wird gar nichts beweisen außer deiner Dummheit. Weißt du überhaupt, wie weit es bis nach Teod ist?«
Langsam ließ Raoden die Hand sinken. Er war kein Geograf. Teod war etwa vier Tagesreisen mit dem Schiff entfernt, so viel wusste er, aber er besaß keinerlei praktisches Wissen, wie viele Meilen oder Fuß das waren. In das Aon Tia musste
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