Elbenthal-Saga Bd. 1 - Die Hüterin Midgards
Betreuung der Mädchen. Selbst drei Jahre nach ihrer Flucht bekam Svenya noch immer eine Gänsehaut, wenn sie sich an die Jahre im Heim erinnerte. An Charlie … Ihr Herz klopfte schneller, und ihre Gedanken flatterten. Ruhig bleiben, befahl sie sich und atmete tief ein. Alles ist gut. Ich bin raus. Ich bin hier . Ausatmen. Einatmen.
Langsam wurde Svenya ruhiger. Sie schloss kurz die Augen, schüttelte sich und schaute in den Himmel hinauf, um herauszufinden, was genau ihr heute Nacht so anders vorkam.
Der Mond war voll und hing trotz der späten Stunde tief und groß über der Stadt. Sein eigenartig rötliches Licht zog die Schatten hier in der einsamen Gasse lang und schmal, und es schien, als würden sie, wenn auch nur ganz leicht, tanzen.
Gespenstisch, dachte Svenya und spürte, wie sich die feinen Härchen in ihrem Nacken und auf ihren Unterarmen erneut aufrichteten. Vorsichtig sah sie sich um. Und dann wusste sie plötzlich, was es war. Sie fühlte sich beobachtet. Vom Himmel aus beobachtet. Doch da oben war niemand … außer dem Mond, einigen zerrissenen Frühjahrswolken und den Sternen.
Svenya unterdrückte einen Fluch und schalt sich für ihre Paranoia. Bisher hatte sie sich immer auf ihre Instinkte verlassen können, aber ihre ständige Furcht vor den Behörden brachte sie wohl langsam um den Verstand. Sie schüttelte den unsinnigen Gedanken, dass jemand sie aus der Luft beobachtete, verärgert ab, packte den ersten der pommesfettigen Müllsäcke und wuchtete ihn hoch auf den Haufen auf dem Container.
Da – ein Geräusch!
Svenya wirbelte herum. Weiter hinten in den Schatten hatte sich etwas bewegt. Keine fünf Meter von ihr entfernt. Eine Ratte vielleicht? Nein, entschied Svenya, das Geräusch und auch der Schatten stammten von etwas Größerem. Etwas viel Größerem. Ein Obdachloser vielleicht?
Sie wich zwei vorsichtige Schritte zurück und spähte in das Dunkel hinein. Sämtliche Muskeln ihres hochgewachsenen Körpers waren angespannt, und sie war darauf gefasst, beim kleinsten Anschein von Gefahr loszurennen. Auf ihre Schnelligkeit hatte sie sich noch immer verlassen können – schon in der Schule war sie die Schnellste der Klasse gewesen. Ihr Sportlehrer hatte sie deshalb verschiedene Male dazu überreden wollen, eine Profikarriere einzuschlagen. Er wollte sie höchstpersönlich trainieren und sie dafür sogar aus dem Heim holen und in eine Sportschule stecken. Svenya hatte sich jedoch geweigert. Denn der Typ war nicht besser als Charlie.
Seitdem hatte das Leben auf der Straße sie noch zäher gemacht – und noch schneller. Sie spähte weiter, doch es war nichts zu erkennen – und auch das Geräusch wiederholte sich nicht. Wahrscheinlich ist nur ein Müllsack umgefallen .
Langsam entspannte sie sich wieder. Sie hatte zu tun und durfte nicht zu lange hier draußen bleiben, sonst gab es wieder einen Anpfiff vom Chef. Ohne die verdächtige Stelle in den Schatten aus den Augen zu lassen, griff Svenya nach dem zweiten Müllsack und stemmte ihn hoch zu den anderen. Da geschah wieder etwas Seltsames. Instinktiv ging sie in Habachtstellung.
Ein Wolf heulte!
Hier, mitten in Dresden ?
Das Heulen war nicht sehr nahe … aber auch nicht sehr weit weg.
Ihr lief ein Schauer den Rücken herab. In den drei Jahren, die sie jetzt hier draußen verbrachte, hatte Svenya so etwas noch nie gehört. Sie hatte gelesen, dass es im Erzgebirge und auch in der Sächsischen Schweiz wieder Wölfe gab; aber hier unten im Elbtalkessel? Unwahrscheinlich . Trotzdem war sie sich sicher, dass das, was da gerade geheult hatte, kein Hund gewesen war.
Das Heulen erstarb so unvermittelt wie es gekommen war, aber die Gänsehaut blieb. Svenya konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so angespannt gewesen war, und beschloss, schnell wieder in die Küche der Kneipe zurückzugehen.
Doch dann sah sie die Augen.
Zwei rot glühende Punkte im Dunkel. Dort, wo sie vorhin die Bewegung gesehen hatte. Das Heulen aus der Ferne wurde beantwortet – von einem Heulen in den Schatten direkt vor ihr.
Und plötzlich rannte Svenya um ihr Leben.
2
Das Geräusch großer, krallenbewehrter Pfoten direkt hinter Svenya.
Die verlassene Seitenstraße auf der Rückseite der Kaschemme war lang und bot erst am Ende einen Ausweg. Bis dort waren es aber mindestens noch zweihundert Meter. Die fünfstöckigen Häuser standen wie aus einem Guss Seite an Seite. Kein Garten, kein Hof, keine offene Einfahrt – keine Abkürzung …
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