Elfenkind
Hörsaals hinunter, um sich in die Anwesenheitslisten einzutragen. Dann wälzte sich der Pulk der Studenten zusammen mit denen der anderen Hörsäle durch die Gänge und die breite Steintreppe herab, dem Ausgang entgegen.
Aliénor und Lara hatten den Eiligen den Vortritt gelassen. Laras Stilettos und Aliénors Plateausohlen waren kaum geeignet, die Treppen hinunterzuhetzen. Sie waren unter den Letzten, die das Gebäude verließen.
Aliénor atmete tief ein und streckte vorsichtig ihr Kreuz durch. Was für eine Wohltat. Sie war froh, der stickigen Luft des Hörsaals und den unbequemen Sitzen zu entkommen.
«Bleibt es dabei? Kurz vor neun?», fragte Lara.
«Na klar. Nach dieser harten Woche ist dringend Abwechslung angesagt. Bis nachher.»
Aliénor wuchtete ihre Tasche in den Korb auf dem Gepäckträger ihres Fahrrads und schaute kurz zum Himmel hinauf. Es nieselte ein wenig. Hoffentlich würde es nicht schlimmer, ehe sie zu Hause war. Noch gut eineinhalb Stunden Zeit, sich ein bisschen frisch zu machen und zu stylen. Von der Uni bis nach Hause brauchte sie knapp zwanzig Minuten.
Fahrradfahren war ein guter Ausgleich zum langen Sitzen in der Uni oder daheim. Obwohl ihre knöchellangen Kleider dafür wenig geeignet waren. Aber sie hasste öffentliche Verkehrsmittel. Die vielen, zumeist schlechten Gerüche, die sie fast körperlich schmerzten. Abgestandene, miefige Luft, Schweiß und Knoblauch, Abgase, dazwischen schwere Parfüms … Sie erinnerte sich nicht, ob sie als Kind auch schon so empfunden hatte, aber eines Tages war es ihr unangenehm aufgefallen und von da an hatte sie das Gefühl, sie müsse in Bussen oder Bahnen die Luft anhalten. Dazu kamen die unterschiedlichen Stimmungen der vielen fremden Menschen, die auf dem engen Raum auch ohne Worte auf sie einstürmten. Überdies hatte sie ständig das Gefühl, angestarrt und beobachtet zu werden, auch wenn Lara behauptete, sie würde sich das nur einbilden.
Überhaupt Lara. Sie hätte Aliénor bestimmt auch morgens abgeholt und nachmittags heimgefahren. Aber Aliénor wollte ihr das nicht zumuten. Und dann war da ja auch noch Laras Freund, den sie manchmal gleich nach der Uni traf. Da nahm Aliénor doch lieber den Kompromiss mit dem Fahrrad in Kauf. So hatte sie auch gleich noch Bewegung.
Trotzdem war ihr absoluter Traum ein eigenes Auto. Aber sie hatte mal gerade genug gespart, um demnächst endlich den Führerschein zu machen. Sicher, sie hätte wie die meisten anderen nebenbei jobben gehen können – irgendetwas fand sich immer –, aber ihre Mutter hatte Bedenken geäußert, dass Aliénor sich übernehmen würde, und steckte ihr lieber ab und zu ein bisschen Geld extra zu. Für ein Auto reichte das jedoch noch lange nicht. In den nächsten Semesterferien würde sie auf jeden Fall arbeiten gehen. Sie hatte schon etwas als Urlaubsvertretung in einem Büro in Aussicht.
Gleich nach der ersten Kurve rutschte Aliénor mit ihrem rechten Schuh vom Pedal ab. Leise fluchend tastete sie danach. Die hohen Sohlen vermittelten nur wenig Gefühl, worauf ihr Fuß stand, aber wenigstens machten sie ein bisschen größer und lenkten damit von einem ihrer Hauptprobleme ab.
«Aliénor, c’est toi?»
Die Stimme kam aus der Küche. Die Tür war nur angelehnt. Der Geruch nach gebratenem Hähnchen und Curry stieg Aliénor in die Nase und ihr Magen verkrampfte sich.
«Oui, maman.»
«On mangera dans dix minutes.»
«Ich möchte nichts essen. Je remonte tout de suite. »
Geoffrey kam die Treppe herunter und runzelte bei ihren Worten die Stirn.
«Hi, Papa.»
«Guten Abend wäre wohl passender, Aliénor. Was soll das heißen, du möchtest nichts essen und gehst bald wieder? Natürlich wirst du mit uns essen!»
Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern verschwand im Wohnzimmer.
Aliénor verdrehte die Augen und murrte tonlos in sich hinein, während sie die Treppe hinaufging. Es hatte keinen Sinn, mit ihrem Vater über so profane Dinge wie Essen oder Begrüßungsformeln zu diskutieren. Sie solle den Respekt der Tochter vor dem Vater zeigen, hatte er ihr des Öfteren erklärt. Als ob sie ihn respektieren würde!
Wenn man jedoch nicht einen seiner cholerischen Wutanfälle heraufbeschwören, sondern den Familienfrieden einigermaßen bewahren wollte, war es klüger nachzugeben. Wenigstens nach außen. Wobei Aliénor sich vor allem ihrer friedliebenden Mutter zuliebe fügte, die Auseinandersetzungen mit Geoffrey nach Möglichkeit mied und Wert auf ein harmonisches Miteinander
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