Dem eigenen Leben auf der Spur
1 VÍA DE LA PLATA
A ls ich in Barcelona lande, ist es warm. Eine blendende Sonne empfängt mich, die die letzten Gedanken an die Frankfurter Pfützen, die ich gerade noch umkurven musste, vertreibt. Ich werde in einem schmalen Bord-Rollstuhl als Letzter aus dem Flugzeug hinausgetragen, wir waren insgesamt vier Rollstuhlfahrer an Bord.
Mein Anschlussflug nach Sevilla, an den eigentlichen Ausgangspunkt für meine Reise, geht erst morgen früh.
Da ich in Barcelona noch keine Übernachtungsmöglichkeit habe, spreche ich den jungen Leiter einer Reisegruppe an, die mit mir zusammen aus Frankfurt hierher geflogen ist. Holger arbeitet als Sozialpädagoge bei der Lebenshilfe Würzburg, er hat für die zehn Männer und Frauen mit geistiger und körperlicher Behinderung, die er begleitet, einen Platz in der barrierefreien Jugendherberge im Zentrum der Stadt reserviert.
Barrierefrei — eine der Wortschöpfungen, über die ich immer wieder und immer noch »stolpere«. Die meisten Menschen ahnen gar nicht, wie sehr sich die Wege, die man in einer Stadt nimmt, ändern, wenn man plötzlich nicht mehr laufen kann. Jede höhere Bordsteinkante bedeutet einen Umweg, jede Stufe vor einem Gebäude heißt, Steinchen ans Fenster werfen zu müssen oder per Handy um Hilfe zu bitten.
Der Gang durch die Stadt wird zu einer Fährtensuche ganz eigener Art: Wie lassen sich Straßenwechsel, Übergänge, Gebäudezutritte und so weiter am besten miteinander verbinden — ohne dabei auf Hindernisse zu stoßen, die für alle anderen keine sind und nicht einmal als solche wahrgenommen werden?
Gern schließe ich mich für eine Nacht einer neuen Gruppe an. Zugleich muss ich über die Situation herzlich lachen, schließlich liegt genau das Gegenteil von einer betreuten Pauschalreise vor mir. Jessica, eine weitere Betreuerin, findet es cool, dass ich in den nächsten Wochen jeden Abend in einem anderen Bett schlafen werde. Sie fragt nur, ob mich die Einsamkeit, die mich erwartet, nicht schreckt. Aber das ist meine geringste Sorge. Gerade sie suche ich ja.
Vor mir liegen sechs Wochen Jahresurlaub am Stück und 1200 Kilometer Jakobsweg. Ich werde auf der Vía de la Plata von Sevilla nach Santiago de Compostela wandern, quer durch Spanien, einmal von Süden nach Norden. Ab morgen bin ich Pilger. Erst vor wenigen Stunden habe ich mich von meinen Frankfurter Kollegen verabschiedet.
»Heute machst du wirklich einen halben Tag frei«, hatte einer meiner Kollegen gewitzelt, als ich am Mittag das Büro verließ. Dieser Spruch war ein Ritual in unserer Abteilung gewesen, wenn einer vor 20 Uhr nach Hause ging, was selten genug der Fall war.
Der Kollege sah müde aus, nachdem er über ein halbes Jahr eine Milliarden Euro schwere Akquisition einer großen türkischen Bank begleitet hatte, die schließlich im allerletzten Moment vom Vorstand doch abgelehnt worden war. Ich war dankbar, nicht bei diesem Mammutprojekt dabei gewesen zu sein, so hatte ich mir viele Nachtschichten und eine große Enttäuschung erspart. Stattdessen hatte ich während dieser Zeit im aufregenden Moskau den Kauf einer russischen Geschäftsbank geprüft.
Nach der Pilgerreise und meiner Rückkehr nach Frankfurt werde ich nicht mehr an meinen alten Arbeitsplatz zurückkehren. Ich werde dann für eine Tochtergesellschaft des Bankhauses, bei dem ich angestellt bin, arbeiten. Meine Jahre in der Abteilung für Konzernentwicklung, dem Allerheiligsten dieser Bank, sind vorüber.
Das alles lag hinter mir, als ich bei strömendem Regen nur mit dem nötigsten Gepäck zur Frankfurter S-Bahn eilte, um den Flug nach Barcelona noch zu erreichen.
Die junge Lufthansa-Mitarbeiterin am Check-in für »Reisende mit Mobilitätseinschränkungen« war mir inzwischen gut bekannt. Schon beim letzten Flug nach Moskau waren mir ihre schrillen, künstlichen Fingernägel aufgefallen. Zugegeben, nicht nur die — sie hatte mir schon damals ausgesprochen gut gefallen, und ich musste noch eine ganze Weile an sie denken, Moskau hin oder her. Wir flirteten, leider nur kurz, denn es parkten noch andere Passagiere hinter mir, aber ich nahm mir fest vor, sie nach meiner Rückkehr aus Spanien zu einem Drink einzuladen.
Reise ins Offene
Ich bin aufgebrochen, um zu spüren, dass ich auf eigenen Füßen stehen kann, auch wenn das nur im übertragenen und nicht mehr im physischen Sinne geht. Natürlich hat sich das Leben für mich seit meinem Unfall von Grund auf verändert, aber nicht unbedingt nur zu
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