Endithors Tochter
da läutete ein Sklave ein Glöckchen und betrat das Gemach. Nalor blickte auf.
»Lord Kus, Gebieter.«
Nalor nickte. Der Diener trat sichtlich nervös zur Seite, und Kus kam herein.
Er war ein hochgewachsener Mann mit schmalem, auffallend bleichem Gesicht, in einem Gewand mit gedämpften Purpur- und Goldtönen. Seine scharfen dunklen Augen verrieten eine Spur schwarzen Humors. Wortlos nahm er auf einem Stuhl gegenüber Nalor Platz. Der Sklave, der ihn gemeldet hatte, brachte eilig ein Silbertablett mit einer verschlossenen Flasche und einem Goldpokal, dann verbeugte er sich tief und zog sich hastig zurück. Unter Nalors wachsamem Blick hob Kus den Stöpsel aus der Flasche und schenkte sich den Pokal voll der dunklen Flüssigkeit, die viel zu rot war, um Wein zu sein.
Unwillkürlich zuckte Nalor leicht zusammen und wandte das Gesicht ab, als Kus den Pokal zum Mund hob und davon nippte. Kus lächelte und wischte sich die Lippen mit einer Serviette ab.
»Es bestürzt Euch, mich dies trinken zu sehen?«
»Es bestürzt mich, ja.«
Kus’ Lachen klang wie ein kehliges Knurren. »Warum? Auf Eure Weise seid Ihr nicht weniger ein Blutsauger als ich. Müsstet Ihr auf einem Schlachtfeld überleben, wie ich es tat, mit nichts als Menschenblut und -fleisch zur Stärkung, bis der Körper heilte; würdet auch Ihr lernen, Blut zu trinken.«
»Das ist schon sehr lange her!«
»Ja, aber es wurde mir zur Angewohnheit.« Kus hob erneut den Pokal an seine Lippen. Nalor konnte ihm nicht zusehen. Er legte seine Gabel ab, griff nach seinem eigenen Pokal, doch dann schob er ihn hastig zur Seite. Er drehte sich dem Musikanten zu und befahl ihm, etwas Fröhlicheres zu singen. Nachdem er sich wieder Kus zugewandt hatte, sagte er:
»Heute wurde es vollbracht.«
»Endithor?«
»Ja. Wir verhafteten ihn gestern Nacht. Die Richter machten keinerlei Schwierigkeiten, so konnte er bereits heute Nachmittag hingerichtet werden. Der Pöbel war begeistert.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Kus lächelte, und seine Augen glänzten dunkel. »Dann sind wir ja sicher. Niemand sonst ahnt etwas.«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Seine Tochter macht mir Sorgen.«
»Oh? Was weiß sie denn?«
»Nichts, dessen bin ich sicher. Aber sie hasst mich. Sie stellte sich vor Gericht gegen mich, und ich weiß, dass sie später noch einmal dorthin zurückkehrte, um Erlaubnis zu erwirken, mit ihrem Vater zu sprechen. Ich bin sicher, dass sie die Sache nicht auf sich beruhen lassen wird.«
Kus zuckte die Schulter. »Es ist nichts von großer Dringlichkeit.«
»Nein, das nicht. Aber in geraumer Zeit hätte ich sie doch lieber aus dem Weg. Nur um sicher zu gehen!«
Kus lächelte bedächtig. »Gut, mein Freund. Gut. Lassen wir sie noch eine Weile in Ruhe. Und dann, wenn die Zeit kommt …« Wieder hob er den Pokal an den Mund.
Nalor schauderte und blickte Kus in die Augen. Bösartigkeit sprach aus ihnen. Hastig schaute er zur Seite und stocherte in seinem Essen. Seinen Weinpokal berührte er nicht mehr.
In der Drachensaatschenke ging es an diesem Abend lebhaft zu. Sie war gedrängt voll mit aufgekratzten Gästen, die sich immer wieder alle Einzelheiten von Lord Grad Endithors Hinrichtung ins Gedächtnis riefen. Der dicke Obis, der Wirt, stand hinter der Theke und sah lächelnd zu, wie seine Schenkmägde sich beeilten, all die Bestellungen auszuführen. Er lächelte, weil seine Kasse sich füllte. Gold und Silber, klimperten an fast jedem Tisch.
»Es war eine gute Schau«, bemerkte ein Spitzbube, der mit seinesgleichen an einem Tisch im Halbdunkel saß. »Der Henker ließ sich Zeit und bot den Zuschauern so allerhand.« Er rückte das Kopfband quer über einer leeren Augenhöhle zurecht und nahm einen Schluck Bier.
»Und gut für mich, dass er sich Zeit ließ«, freute sich ein rattengesichtiger Dieb neben ihm. »Dadurch wurde meine Ausbeute größer, dank Bel!« Er brachte einen prallen Beutel zum Vorschein und bestellte eine Runde.
Ihnen gegenüber saß ein kräftiger Mann mit haarigem Fassbauch unter dem offenen. Wams. Mit dem Kopf hatte er, es sich am vollen Busen einer Dirne bequem gemacht, die hinter ihm stand. »Es fällt mir schwer zu glauben«, brummte er, »dass Endithor sich wirklich all dieser Verbrechen schuldig gemacht hat, die der Herold aufzählte. Ich bin kein unreifes Bürschchen mehr und habe so meine Erfahrungen. Ich spüre Ruchlosigkeit und Intrigen ähnlich dem Wild, das den Jäger wittert. Endithor war bloß ein niedriger
Weitere Kostenlose Bücher