Endithors Tochter
fand lediglich einen stummen Widerhall auf ihren Zügen. Kaum etwas brachte sie der Verzweiflung nah, und noch weniger der Verzückung. Ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen war für jene, die wenig zu verlieren und wenig zu gewinnen hatten. Areel war in einer Welt des Reichtums und der Macht aufgewachsen und hatte viel zu schützen, vor allem sich selbst.
Als die Fanfaren auf dem Platz schmetterten und so den Beginn der Hinrichtung ankündeten, legte Areel die Bücher zur Seite, die sie studiert hatte: ihres Vaters Tagebücher. Sie verrieten ihr alles: Nalors Betrug – ihres Vaters Furcht vor Kus, dem geheimnisvollen Edlen, der Nalor entweder lenkte oder von ihm gelenkt wurde – die lange Geschichte, wie Nalor allmählich zur Macht am Hof gekommen war, und auf welch schreckliche Weise er sie nutzte. All das stand in ihres Vaters Tagebüchern. Die letzte Eintragung hatte er gestern gemacht. In seiner dünnen, verschnörkelten zamorianischen Schrift hatte Endithor das beabsichtigte Zauberritual niedergelegt, seinen Entschluss, Lera für das Wohl der Allgemeinheit zu opfern, als eine Bezeugung seiner Demut gegenüber den Göttern und ein Gebet, mit dem er um ihr Verständnis bat.
Wieder schmetterten die Fanfaren. Areel stützte die Ellbogen auf das Fenstersims und blickte hinab auf die ferne Menschenmenge. Ein Beauftragter der Obrigkeit, in Scharlachrot und Gold gewandet, ritt auf einem Schimmel zur Hinrichtungsstätte. Vor den Stufen zu dem hohen Podium in der Mitte des Platzes saß er ab.
In diesem Augenblick klopfte es an Areels Tür. Verärgert drehte sie sich um. »Ich sagte doch, dass ich nicht gestört werden will!«
»Verzeiht, Herrin.« Es war die Stimme eines Dieners. »Es ist wichtig.«
»Wichtiger als meines Vaters Tod?« fragte sie scharf. Doch dann fügte sie nachgebend hinzu: »Herein!«
Der Diener öffnete die Tür und verneigte sich tief. Er war mittleren Alters und trug den Kittel eines Oberdieners. »Darf ich sprechen, Herrin?«
Areel nickte.
»Gebieterin, ich dachte, Ihr solltet wissen,. dass viele des Gesindes das Haus verlassen haben.«
»Was willst du damit sagen?«
»Sie sind fort. Nur sechs sind geblieben: der Truchsess, ein Stallbursche, zwei Sklaven, ich und das Mädchen.«
»Lera?«
»Ja, sie.«
»Und die anderen?«
Der Diener zuckte die Schulter. »Sie müssen schon früh am Morgen das Haus verlassen haben, mitsamt ihrer persönlichen Habe.«
Areel verzog bitter das Gesicht. »Sie wollten wohl nicht länger im Haus eines Verräters dienen? Was ist mit euch anderen, Tirs? Wollt auch ihr fort?«
Der Mann hob stolz den Kopf. »Wir sind Euch treu ergeben. Die Sklaven müssen bleiben, und solange Ihr uns anderen den Lohn zahlt, bleiben wir ebenfalls.«
»Sehr gut …« Wieder erschallte Fanfarenklang. »Lass mich jetzt allein, Tirs.«
»Sehr wohl, Gebieterin.« Der Mann verneigte sich, ging rückwärts aus der Kemenate und schloss die Tür hinter sich.
Areel kehrte ans Fenster zurück und blickte auf den Platz. Der Mann in Scharlachrot und Gold gab auf dem Podium ein paar letzte Erklärungen zur Hinrichtung von Lord Graf Endithor von Shadizar ab. Ein weiterer Fanfarenstoß, und die Menge jubelte, als ein pferdegezogener Karren aus der Richtung des Hofkerkers den Platz überquerte. Endithor, mit Ketten an Händen und Füßen gefesselt, duckte sich, als der Mob ihn mit allem möglichen zu bewerfen begann. Am Fuß der Hinrichtungsstätte hielt das Pferd an. Zwei Wächter hoben den Gefangenen aus dem Karren. Steine, faules Gemüse und Erdklumpen trafen sowohl Endithor als auch seine Wächter. Ein Trupp Soldaten um das Podium hielt die allzu Neugierigen zurück. Endithor wurde auf das Podium gebracht und den Bürgern von Shadizar gezeigt.
Weitere Steine und Gemüse flogen durch die Luft. Berittene Soldaten trieben die Zuschauer weiter zurück. Dann brachte ein Begleittrupp, dem Weg des Karrens folgend, den Henker herbei. Nach einer neuerlichen öffentlichen Erklärung wurde er auf das Podium gebeten. Er war ein riesenhafter Mann, nur mit einem dunklen Lendentuch bekleidet, das von einem breiten. Ledergürtel unterhalb des dicken Bauches gehalten wurde. Damit er nicht erkannt werden konnte, trug er seinem Stand gemäß eine schwarze Kapuze, die bis zur Mitte der Brust und des Rückens reichte. In den kräftigen Händen hielt er furchterregende Folterwerkzeuge. Mehrere Wächter folgten ihm auf die Plattform. Sie rissen Endithor die Kleider vom Leib und befestigten lange Ketten an
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