Endithors Tochter
den Stahlbändern um seine Fußgelenke. Diese Ketten schlangen sie über einen Flaschenzug am Galgen. Grob zerrten sie den Verurteilten hoch. Als Endithor schließlich an den Füßen mit dem Kopf nach unten hing, löste man seine Handschellen, spreizte seine Arme und befestigte sie an Klammern auf dem Podium.
Die Menge jubelte. Die Stadtsoldaten verließen die Plattform und schlossen sich ihren Kameraden an, die die Menge zurückhielten. Und dann begann der Henker mit seiner Arbeit.
Er war ein Meister seines Fachs – Meister nicht nur darin, seinen Opfern Schmerzen zuzufügen, sondern auch im Mitreißen der Zuschauer. Mit der Gabe des Schaustellers baute er ihr Interesse auf, ließ Blut sickern oder verrenkte Gelenke mit atemberaubender Kunstfertigkeit. Die Schreie, die er Endithor entlockte, wurden immer schriller und länger, um die wachsende, freudige Erregung des dichtgedrängten Mobs zu steigern.
Nach und nach setzte er alle seine Folterinstrumente ein und fügte Endithor unbeschreibliche Schmerzen zu, bis er ihm letztendlich den Kopf abtrennte und auf einen Pfahl spießte.
Areel hatte bis zum Schluss zugesehen und ihr Hass war mit jedem Foltergriff gewachsen.
Dass es solche Gräuel gab, erstaunte sie nicht, denn wie alle anderen ihres Standes und ihrer Rasse war sie nicht nur einmal Zeuge solch grauenvoller Hinrichtungen gewesen. Es war nichts Schlimmeres geschehen, als bei den meisten Hinrichtungen.
Doch diesmal war es ihr Vater gewesen! Zwar hatte sie gleichmütig zugesehen – scheinbar, jedenfalls –, aber es hatte sich um die Hinrichtung ihres Vaters gehandelt, der unschuldig war. Unschuldig!
Die Richter, die ihn verurteilt hatten, gingen frei aus!
Und Nalor, dem das Gericht so gut wie gehörte, der es nach seinem Willen lenkte, blieb unbestraft, konnte neue Untaten aushecken und tun, was ihm beliebte!
Nachdem die Hinrichtung vorüber war, schloss Areel die Läden ihres Fensters, saß den ganzen langen Nachmittag in der Düsternis ihrer Kemenate und durchlebte all die Qualen noch einmal, als Ansporn für ihren bereits Form annehmenden Racheplan. Sie zweifelte nicht, dass ihr Leben in Gefahr war. Die Frage war lediglich: Wie lange würde Nalor sie, die eine ständige Bedrohung für ihn war, noch leben lassen?
Sie wusste aber auch, dass Nalor nicht sofort handeln würde, weil das Verdacht erregte. So müsste ihr ausreichend Zeit für die sorgfältige Ausarbeitung ihres Planes bleiben.
Doch noch hatte sie keine genaue Vorstellung des Handlungsablaufs, beschäftigte sie sich noch nicht mit dem Zeitplan – bis sie spät am Abend noch einmal ihres Vaters Tagebücher studierte und sich näher mit seinen anderen Aufzeichnungen befasste.
Zum ersten Mal schlug sie so manches ungewöhnliche, uralte Buch auf und las in Schriftrollen, die sie gar nicht in seinem Besitz erwartet hatte. Da staunte Areel über alle Maßen, denn was immer auch ihres Vaters treibende Kraft oder Ziel gewesen war, diese Werke bewiesen, dass er wahrhaftig Zauberei ausgeübt hatte!
Areel begann die Bücher zu lesen, und ihr Plan nahm neue Form an. Nalor mit Hilfe von Anwälten, Manipulierung von Gesetzen und anderen weltlichen Mitteln schlagen zu wollen, war von vornherein zum Scheitern verdammt.
Doch ihn mit Zauberei bekämpfen …?
Ja, sie würde mit Zaubermittel und Beschwörungen, mit überirdischen Kräften und den Mächten der Finsternis gegen ihn vorgehen, gegen die er mit seiner weltlichen Verruchtheit nicht aufkam. Sie würde ihres Vaters unvollendetes Werk fortführen. Sie würde Nalor völlig vernichten, mit Körper und Seele, auf eine Weise, derer nur Verzweifelte und Verdammte fähig waren.
Ihre Augen blitzten vor wilder Entschlossenheit. »Ja, das werde ich!« rief sie laut. »Eine andere Wahl habe ich nicht!«
Ihr blieb wenig Zeit; sie musste schnell handeln, sich des Werkzeugs bedienen, das ihr zum Ziel verhelfen konnte.
»Zauberei«, murmelte sie.
Zauberei, um den Mann zu vernichten, der ihren Vater vernichtet hatte.
Ihr Blick wanderte über die Bücher ihres Vaters. Sie zündete ein paar zusätzliche Öllampen wegen der zunehmenden Dunkelheit in ihrer Kemenate an, und nahm sich die uralten Zauberbände vor.
Zum gleichen Zeitpunkt nahm Lord Graf Nalor, gar nicht so weit entfernt, ein spätes Abendmahl in einem kleinen Gemach seiner Wohnung zu sich. Ein Lautenspieler klimperte auf seinem Instrument und sang dazu ein herzergreifendes Lied von zwei getrennten Liebenden. Er hatte es noch nicht beendet,
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