Endstation Wirklichkeit
auf. „Für mich heißt es das! Aber wenn dich alles hier ankotzt, dann fahr doch nach L.A.! Pack deine Sachen und lass alles zurück. Deine Heimat, deine Freunde, deine Eltern – mich! Wenn dir ein Leben in der Stadt wichtiger ist als das, was du hier hast, dann geh doch fort von den Menschen, denen du etwas bedeutest. Dann verlass mich und all das Schöne, was wir in den letzten dreizehn Monaten erlebt haben. Vielleicht kannst du ja einen nahtlosen Übergang schaffen und mit Phil gemeinsam in der Stadt deine Träume verwirklichen. Ich wünsche dir nur, dass er dich wenigstens halb so viel liebt, wie ich es tue!“
Das Letzte, was David in Alans Gesicht erkennen konnte, waren seine tränenerfüllten Augen. Jene Augen, die kein klarer Blick mehr durchdringen konnte. Sie waren es immer gewesen, die ihn so sehr fasziniert hatten. Ohne die Tränen, die jetzt das freudige Leuchten hinter einem Schleier verschwinden ließen, hatten sie ihn von Anfang an in einen Bann gezogen und ihn gefangen gehalten. Sie und das Lächeln in dem sonnengebräunten Gesicht waren der Grund gewesen, warum er Alan so anziehend gefunden und sich schließlich in ihn verliebt hatte. Jetzt jedoch konnte er erkennen, dass das Leben nicht mehr so sein würde wie bisher. Auch ihre Liebe zueinander würde nicht mehr so sein, wie sie einmal gewesen war. War er vielleicht zu weit gegangen? Hatte er mit seinen Schwärmereien einen weiteren Stein auf die Mauer zwischen Alan und sich gelegt, die damit endgültig unüberwindbar geworden war? Hatte sein Erzählen von Phils Erlebnissen und Erfahrungen die Brücke, die ihn mit Alan seit mehr als einem Jahr verband, so weit belastet, dass sie dem Gewicht nicht mehr standhalten konnte? War ihre Liebe und ihre Beziehung zusammengestürzt wie ein Kartenhaus?
David schloss die Augen und verbarg mit geneigtem Kopf sein Gesicht in den Händen. Er achtete nicht darauf, wie Alan mit Tränen auf den Wangen den Raum verließ.
3
W ährend er einfach nur dastand und die Erinnerungen auf ihn wirkten, versuchte er das damalige Gefühl der Enttäuschung und der Trauer mit seinen heutigen Empfindungen zu vergleichen. Er war sich nicht sicher, ob das leichte Frösteln, das an seinen Beinen emporkroch und von seinem ganzen Körper Besitz ergriff, von der noch kühlen Morgenbrise verursacht wurde, oder ob die Enttäuschung über die Entwicklung der Vergangenheit der Grund dafür war.
Er versuchte sich darüber klar zu werden, ob das, was er in Los Angeles erlebt hatte, seinen Träumen von damals entsprochen hatte. Ob es das wert gewesen war. Dass er durch das Festhalten an diesem Traum und ständige Kundtun seiner Wünsche und Hoffnungen die Beziehung zu Alan so weit belastet hatte, dass sie an jenem Abend zerbrochen war. Dass das Band, welches sie lange miteinander verbunden hatte, zerriss.
Damals hatte ihm nichts mehr im Weg gestanden. Er hatte seinen Traum Wirklichkeit werden lassen. Ihre Beziehung, das Fundament, das er brauchte, um es in dieser Einöde auszuhalten, und auf das er sich stützte, war zerstört.
Aber hatten Alan und ihre Liebe zueinander ihm wirklich im Weg gestanden? Waren sie tatsächlich ein Hindernis gewesen und hatten ihm den Schritt in eine andere, bessere Zukunft versperrt? Oder war die Liebe zu Alan nicht vielmehr wie ein Anker gewesen? Wie Wurzeln, die ihn dort gehalten hatten? Dort, wo er vielleicht hingehörte? Wo er glücklicher hätte sein können, als er es hier in der Stadt jemals gewesen war?
Jetzt nach all diesen Erfahrungen fragte er sich, ob sein Traum von der großen Stadt in der Tat nur eine Vision gewesen war, die mit der Realität nichts zu tun hatte.
Wieder begann in der Nähe ein Vogel zu singen. Es klang fröhlich, unbedarft, wie der Ausdruck überschwänglicher Zufriedenheit.
David störte das Gezwitscher plötzlich. Warum nur trällerte das Tier so unbefangen sein Liedchen, während er gegen die Flut unangenehmer Erinnerungen aus der Vergangenheit ankämpfte? Sofort dachte er an seinen Kampf um den Erhalt seiner Liebe, seiner Beziehung.
Wut überkam ihn. Wie würde sich die Niederlage von damals auf diesen Morgen auswirken? Was passierte, wenn er jetzt genauso verlöre?
So, wie er damals Alan verloren hatte.
Aus seinem Traum war ein Albtraum geworden.
***
„Ist irgendwas?“, erkundigte sich seine Mutter und sah David besorgt an.
Doch David antwortete nicht. Er beachtete sie nicht einmal. Nachdem er sich ein Glas und etwas zu trinken aus dem
Weitere Kostenlose Bücher