Engelsblut
zukunftslos und mit einem Leben beladen, das in den zwanzig Jahren, da sie es ausgesetzt hatte, dämmrig und schattig geworden war.
Langsam kam sie bis zum Friedhof, wo man Samuel begraben hatte und wo sich die Vergangenheit mit dem Gesicht einer Greisin zeigte: Ihre besten Tage waren vorüber, und nun schwand sie langsam dahin – ohne Eile, aber auch ohne Widerstand. Lena kam in den Sinn, dass Moritz’ Interesse an ihrer Geschichte nicht durchdringend genug gewesen sein mochte, dass Grothusens Vergebung viel zu spät kam, dass sie zu genügsam geworden war, um mehr zu fordern, als zurück in ihre Kammer zu gehen und dort zu hocken.
Ihr Geschick hatte seine Schuld verloren. Doch weil die Schuld jenes Geschick auszufüllen begonnen hatte, schien seine Größe nur aufgebläht. Im Inneren hingegen war es leer, was bedeutete, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als zu schrumpeln.
Da erblickte Lena hinter sich stehend eine, die gleich ihr die Geschichte nur halbherzig einem anderen übergab, die beharrlich daran fraß und sich vergiften ließ. Lena sah eine Frau, die alt war – viel älter, viel abgelebter, viel mutloser, als sie selbst es jemals sein konnte.
»Nun«, erklärte Veronika bitter und trostlos, »ist er gegangen? Hat er genug von dir und deinem geschundenen Leben? Will ihn nichts halten bei Samuel und den seinen? Das hätte ich dir lange sagen können – du bist und bleibst die Einzige, die Samuel jetzt noch gehört!«
Sie lachte herrisch, packte Lena am Arm und wollte sie auf jenem schmalen Weg zwischen Samuels Grab und dem verfaulten Gutshof mit sich ziehen.
Lena blieb steif.
»Lass mich los«, sagte sie flüsternd. »Berühre mich nicht!«
Veronika kreischte und packte fester zu. »Ho, ho!«, spottete sie. »Hast wohl geglaubt, der junge Mann würde dich in die Welt mitnehmen! Hast gedacht, du könntest ihn nach deiner Pfeife tanzen lassen! Aber du willst mir doch nicht weismachen, dass ein verdorrtes Weib sich noch anmaßen darf, auf ein annehmbares Leben zu hoffen!«
Lena tat nichts, um sich loszureißen, aber sie wich keinen Schritt.
»Lass mich los«, wiederholte sie vor Samuels Grab. »Berühre mich nicht!«
Die Sehnen an Veronikas faltigem Hals spannten sich. Ihr Atem wurde heiß wie das gerötete Gesicht. Beinahe spie sie Lena ins Gesicht, ohne von ihr zu lassen.
»Du kommst mit mir zurück!«, schrie sie atemlos und hieb die Hand noch fester in ihren Arm. »Du darfst dich nicht davonmachen! Glaub nicht, du dürftest mehr wagen als ich, nach all dem Schlimmen, was du angerichtet hast!«
Da sprach Lena zum dritten Mal, und diesmal war es lauter als alles, was Veronika jemals zu ihr gesagt hatte: »Lass mich los! Berühre mich nicht!«
Lange schien Veronika nicht zu hören. Dann zuckte sie zusammen, verlor die Kraft in ihrem Wort, strauchelte gefällt wie seinerzeit im Palais Hagenstein. Ihre Hand wurde schlaff wie ihr Körper, rutschte von Lena ab und zog sie zum Boden, wo sie liegen blieb. Veronika löste sich auf. Ihr starrer Körper wurde weich und haltlos, und zusammengesunken heulte sie.
»Veronika«, murmelte Lena verwirrt. »Veronika.«
Sie wagte nicht, sich zu bücken und gestaltlos zu werden wie die andere. Sie mochte nichts tun, als auf jene herabzublicken und zu trauern, weil Veronika vergeudet war und weil sie selbst keine Worte wusste, um deren Weinen zu beenden.
Es fiel ihr kein Trost ein, kein Zuspruch, keine Aufmunterung. Das Einzige, was ihr einfiel, war zu schreien – so lange zu schreien, bis sie das Weinen übertönen würde und es nicht mehr hören müsste, bis die verbitterte, verlorene Frau in Schranken gewiesen war, bis ihr nicht nur die Vergangenheit gehören würde, sondern auch die Zukunft.
Durchdringend. Ohrenbetäubend. Markerschütternd.
Lena legte den Kopf zurück. Eine Weile blickte sie stumm auf den klaren, schwarzen Abendhimmel, dann holte sie Luft und schrie in den Himmel hinein.
Als sie ihren Blick wieder senkte, hatte Veronika aufgehört zu weinen, und Moritz Schlossberg stand neben ihr.
»Was tut Ihr denn da?«, fragte er verwirrt.
Lena lächelte scheu, und es machte sie jung und wischte die Jahre fort, die sie gewartet hatte, dass einer wie Moritz Schlossberg kommen würde.
»Ich habe geschrien«, murmelte sie, »nichts weiter.«
Sie drehte sich von Samuels Grab und von Veronika weg und ging den Weg vom Friedhof fort, als wüsste sie um ein Ziel.
Zögernd folgte Moritz, eingeschüchtert von ihrem Schrei, seinem spitzen Klang und
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