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Schuldig

Schuldig

Titel: Schuldig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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PROLOG
    23. Dezember 2005
    Wenn du merkst, dass deine Tochter verschwunden ist, breitet sich eine Eiseskälte in deiner Magengrube aus, deine Beine tragen dich nicht mehr. Dein Herz ist nur ein einziges tiefes Dröhnen. Ihr Name, scharfkantig wie Metallspäne, verfängt sich zwischen deinen Zähnen, noch während du versuchst, ihn mit einem Schrei hinauszupressen. Die Angst haucht dir mit der Stimme eines Ungeheuers ins Ohr: Wo hast du sie zuletzt gesehen? Ist sie weggelaufen? Wurde sie entführt? Und dann, zum Schluss, schnürt sich dir die Kehle zu, wenn du begreifst, dass du einen Fehler gemacht hast, den du niemals wiedergutmachen kannst.

    Daniel Stone war das zum ersten Mal vor zehn Jahren passiert, während eines Besuchs in Boston. Seine Frau nahm an einem Kolloquium in Harvard teil, und sie nutzten die Gelegenheit für einen kleinen Familienurlaub. Während Laura in ihrer Arbeitsgruppe saß, schob Daniel Trixies Buggy über das Kopfsteinpflaster des Freedom Trail. Sie fütterten die Enten im Park, und als Trixie selbst auch Hunger bekam, steuerte Daniel einen Imbiss an der Faneuil Hall an. Er war einige Augenblicke unaufmerksam gewesen, hatte versucht, den Cheeseburger und sein Portemonnaie mit einer Hand zu halten. Als er wieder einen Blick in den Buggy warf, war sie weg.
    Bis heute kann Daniel sich nicht an alles erinnern. Wie lange hatte es zum Beispiel gedauert, bis das Polizeiaufgebot an der Faneuil Hall eintraf und mit der Suche nach einer Vierjährigen mit blauen Augen und rotblonden Haaren begann? Woran er sich noch gut erinnerte, waren die anderen Mütter, die ihre Kinder enger an sich zogen, als wäre sein Unglück ansteckend. Und an die Fragen, mit denen ihn der Detective bombardierte: Wie groß ist Trixie? Wie viel wiegt sie? Was hat sie an? Haben Sie ihr je erklärt, sie soll nicht mit fremden Leuten mitgehen? Die letzte Frage konnte Daniel nicht beantworten. Hatte er mit ihr darüber gesprochen oder es bloß vorgehabt? Wusste Trixie, dass sie schreien und weglaufen sollte? Wäre sie laut genug, schnell genug?
    Die Polizisten sagten ihm, er solle sich hinsetzen, damit sie wüssten, wo sie ihn notfalls finden könnten. Daniel nickte, sprang aber gleich wieder auf, sobald sie ihm den Rücken zukehrten. Er sah in jeder Imbissbude nach. Er schaute unter sämtliche Tische. Er stürmte in die Damentoilette und rief Trixies Namen. Er spähte unter die Rü­schenbehänge der Verkaufswagen für Modeschmuck, Socken mit Elchaufdruck und Reiskörner, auf die man seinen Namen schreiben lassen konnte. Dann rannte er weiter.
    Der Vorplatz war voller Menschen, die keinen Schimmer hatten, dass nur ein paar Meter von ihnen entfernt eine Welt aus den Fugen geraten war. Ahnungslos machten sie ihre Einkäufe, bummelten, lachten, während Daniel an ihnen vorüberhastete. Die Mittagszeit war vorbei, und die meisten Angestellten waren wieder an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt. Tauben pickten die letzten Krümel aus den Ritzen zwischen den Pflastersteinen. Und neben der sitzenden Bronzefigur des legendären Basketballtrainers Red Auerbach hockte Trixie auf der Bank und lutschte am Daumen.
    Bis zu dem Moment, als Daniel sie erblickte, war ihm gar nicht bewusst gewesen, wie viel von ihm selbst durch ihr Verschwinden abgetrennt worden war. Er verspürte die gleichen Symptome wie in dem Augenblick, als er ihr Verschwinden bemerkt hatte: zittrige Beine, Sprachlosigkeit, völlige Bewegungsunfähigkeit. »Trixie«, sagte er schließlich, und dann lag sie in seinen Armen, knapp fünfzehn Kilo süße Erleichterung.

    Jetzt – zehn Jahre später – war Daniels Tochter schon sehr viel länger verschwunden als nur vierundzwanzig Minuten. Seit mehr als vierundzwanzig Stunden.
    Daniel zwang seine Gedanken zurück in die Gegenwart und drosselte die Geschwindigkeit des Snowmobils, als sich der Pfad vor ihm gabelte. Sogleich peitschte der Schneesturm wie durch einen Schlot – er konnte nicht einen Meter weit sehen, und als er sich umdrehte, war seine Spur bereits verweht, eine unberührte Fläche. Die Yupik-Eskimos hatten ein Wort für diese Art von Schnee, der einem in die Augen biss und wie ein Pfeilhagel auf die nackte Haut traf: pirrelvag . Der Ausdruck stieg aus Daniels Kehle auf, verblüffend wie ein zweiter Mond, Beweis dafür, dass er früher schon einmal hier gewesen war, so überzeugend er

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