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Engelsblut

Engelsblut

Titel: Engelsblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kroehn
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hörte auf, sich zu hassen, als er den Tod ahnte. Bevor er sich seine Leichtsinnigkeit jedoch vergeben konnte, war er bereits gestorben.
    Andreas’ Geschwister ließen das unselige Palais niederreißen. An dessen Stelle errichtete man einen Gedenkstein für Susannas totes Kind, mit dem Wilhelm Bringsheim nichts zu tun haben wollte.
    Als jener Stein errichtet wurde, hielt Maximilian Scheyrer eine öffentliche Ansprache.
    »Ich habe die Gefahr sogleich erkannt«, erklärte er. »Als Andreas von Hagenstein mich warnte, habe ich noch am gleichen Tag einen Brief ans Landespräsidium verfasst.«
    Der Bischof war bei dieser Feier nicht anwesend, ließ jedoch einen Brief verlesen. Wissend um Samuels Vergehen hätte man dazumal den schändlichen Fall an Rom weitergeleitet.
    Die wenigen Gäste lauschten. Bürgermeister Scheyrer schmückte die schauderhaften Taten aus. Sebastian Bechtlhuber schrieb lange Artikel darüber. Darin stand auch der Rat, dass Samuels Bilder vernichtet werden müssten und dass, wer immer sein Schüler gewesen sei und mit ihm gelebt habe, besser kein Zeugnis davon gebe und seinen Namen niemals nenne.
    Ein Jahr später gedachte niemand mehr der schaurigen Geschehnisse. Erstickendes Moos überzog den Gedenkstein, und das Holz des Kreuzes daneben wurde von Würmern zerfressen.
    Von Simon Grothusen war kein Wort zu erfahren.
    Es verhielt sich so, dass er – während Lena den toten Samuel heimschaffte und bei ihm bleiben musste – in den Süden ging.
    An sich gepresst hielt er den Leib des Neugeborenen, welcher kein Gewicht und keine Wärme zu haben schien. Kalt lag das Kind an des Mannes bloßer Haut.
    Grothusen verbarg es noch immer vor der Welt, obwohl ihm niemand folgte, und vergaß – mäßig voranschreitend – den sanften Druck des fremden Körpers. Er wollte nicht daran denken. Er wusste, dass er das Kind eigentlich bestatten müsste, aber der Wald, der nicht allzu dicht den Weg säumte, schien ihm bis auf die Bäume zu leer, um hier das nicht mehr Lebende zu verscharren. Das Licht, das auf den fruchtlos braunen Boden fiel, verriet die Sonne nicht, die jetzt irgendwo hoch droben nach dem nächtlichen Regen schien, nicht sichtbar, nur fühlbar.
    Grothusen begann zu schwitzen ob seines schnellen Schritts. Er fluchte vor sich hin und beklagte das Leben, dem es gefiel, aus ihm einen Flüchtling mit schäbiger Vergangenheit zu machen. Er fragte sich, was er im Süden denn noch erhoffen konnte – die Erinnerung an Lena, die ihn zurückgewiesen und nun mit der Strafe zu leben hatte, dass ihre Seele geschundener war als seine? Die Macht von neuen Worten, mit denen er wieder für Künstler werben würde? Den Ekel vor Fisch, der nun leiser schmeckte?
    Grothusen blieb erstmals stehen. Das Kind hatte seine Wärmelosigkeit verloren. Es fühlte sich, an seiner aufgeheizten Haut liegend, wie lebendig an.
    Ich habe viel verloren, dachte Grothusen, aber andere noch mehr als ich.
    Es war kein ruhmvoller Verdienst, nicht der größte Verlierer zu sein. Es reichte nur fürs Erste, ihm Mut und Trotz zum Weitergehen zu verleihen, und immerhin hatte er mit Samuel genug Geld gemacht, um davon leben zu können.
    Entschlossen hob er den Fuß, achtete beim Fortschreiten nicht auf den Weg, sondern lugte in den baumverstellten Himmel. Kein Windhauch regte sich. Kein Vogel zwitscherte in den lichten Kronen.
    Still war es, als habe der Atem der Welt ausgesetzt. Grothusen wollte den erhobenen Fuß wieder aufsetzen. Doch noch während er versuchte, den Schritt zu vollenden, strauchelte er und fiel.
    Mürrisch erhob er sich. Er hielt das Kind noch fester an sich gepresst, wollte erneut weitergehen – stolperte und fiel.
    Dreimal wiederholte er sein Bemühen. Zuletzt blieb er liegen, lauschte, fühlte und gewahrte, dass die Welt stehen geblieben war wie eine Uhr, deren Zeiger nicht mehr dem Takt der Zeit folgte. Erschreckend klammerte er sich an das Kind – seinen einzigen Gefährten –, vergaß, dass es tot war, und weil er es vergaß, hörte er es schreien.
    Es schrie leise, aber es übertönte den Stillstand der Welt. Den hatte es herbeigeführt, um von Grothusen gehört zu werden – als das Einzige, was sich regte. Unendlich langsam setzte es mit seinem Wimmern in Gang, was eben noch erstarrt war, schrie die Töne des Waldes zurück, des Himmels und des Mannes, der es hielt.
    Grothusen rappelte sich auf, konnte wieder gehen und erinnerte sich, dass Susanna das Kind in der Nacht gestillt und solcherart gestärkt hatte,

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