Engelstanz: Dunkle Verlockung Teil 3 (German Edition)
1
Vor vierhundert Jahren
Sie hatte den Aufstieg und Fall von Imperien und Königreichen bezeugt, hatte Königinnen kommen und gehen sehen und miterlebt, wie Erzengel im Kampf aufeinandertrafen und die Welt mit Strömen von Blut übergossen. Sie hatte die Geburt des Erzengels Raphael festgehalten, ebenso wie das Verschwinden seiner Mutter Caliane und die Hinrichtung seines Vaters Nadiel.
Jahrhundert um Jahrhundert hatte sie zugesehen, wie ihre Schüler in die Welt hinausflogen, mit Träumen im Herzen und einem zögerlichen Lächeln auf den Lippen. Sie las die Briefe, die sie ihr aus den entlegensten Ländern und Urwäldern schrieben, aus Gebieten mit strömendem Regen, endlosen Wüsten und erbarmungslosen Winden. Und sie feierte die seltenen, freudigen Ereignisse, wenn ihre Schüler selbst Eltern eines kleinen Engels wurden.
All dies erlebte sie von den zerklüfteten Gipfeln und der schimmernden Schönheit der Zufluchtsstätte aus, denn sie war ein erdgebundener Engel, dessen Flügel nie zum Fliegen bestimmt gewesen waren. Das erste Jahrtausend nach ihrer Entstehung war hart gewesen, das zweite herzzerreißend. Jetzt, nachdem mehr als die Hälfte des dritten vorübergezogen war und das Gespenst eines weiteren, verheerenden Krieges als verstohlener Schatten am Horizont lauerte, spürte sie nur noch Resignation.
»Jessamy! Jessamy!«
Sie wandte sich von der Felskante ab, wo sie gestanden und in den kristallklaren blauen Himmel geblickt hatte – einen Himmel, den sie niemals berühren würde. Mit schnellen Schritten lief sie auf dem felsigen Untergrund dem kleinen Mädchen entgegen, dessen Flügel über den Boden schleiften, als es auf sie zueilte. »Vorsichtig, Saraia.« Sie ging in die Knie und fing die kleine, stämmige Gestalt auf, deren Körperbau von dunklen, schokoladenbraunen Flügeln dominiert wurde. Bronzefarbene Fasern durchzogen die Federn und ließen sie im gleißenden Licht der Gebirgssonne glitzern.
In dem Bronzeton spiegelte sich die Farbe von Saraias Haut wieder und auch die ihrer Haare, die ihr zerzaust ins Gesicht fielen. Das glänzende Band, mit dem ihre Mutter sie an diesem Morgen gewiss sorgfältig zusammengebunden hatte, hing ihr lose über die Schulter.
Unbeeindruckt schlang das kleine Mädchen in liebevollem Überschwang die Arme um Jessamys Hals. »Sie müssen mitkommen!« Gerötete Wangen, funkelnde Augen, der Geruch von klebrigen Süßigkeiten und schillernder Aufregung. »Das müssen Sie sehen!«
Seit über zweitausend Jahren war Jessamy nun Lehrerin für junge Engel, und noch immer hatte das Lächeln eines Kindes die Kraft, ihre Sinne in freudiges, strahlendes Licht zu tauchen. Eine schwere Melancholie hatte sich auf ihr Gemüt gelegt, während sie die Engel bei ihren Sturz- und Segelflügen über der zerklüfteten, widerhallenden Schlucht beobachtet hatte. Doch dieses Gefühl schüttelte sie nun ab und drückte Saraia einen Kuss auf ihre weiche, pralle Wange, ehe sie sich aufrichtete und das Kind auf den Arm nahm.
Seidig und warm hingen Saraias Flügel über ihrem Arm, aber Jessamy konnte das Gewicht des Mädchens mit Leichtigkeit tragen. Nur ihr linker Flügel war verdreht und nutzlos, eine fremdartige Hässlichkeit an diesem Ort der Macht und gefährlichen Schönheit. Ansonsten war sie so stark wie alle anderen Engel auch. »Was muss ich mir ansehen, mein Spatz?«
Saraia dirigierte sie zu Raphaels Teil der Zufluchtsstätte und zu dem Bereich, in dem sich die Waffenhalle und der Kampfübungsplatz befanden. Jessamy legte die Stirn in Falten. »Saraia, du weißt, dass du nicht hier sein darfst.« Für einen Babyengel, der seine Flügel und seine Balance noch nicht unter Kontrolle hatte, konnten die Gefahren hier tödlich sein.
»Illium hat gesagt, wir dürften dieses eine Mal bleiben.« Die Erklärung sprudelte nur so aus ihr heraus. »Ich habe gefragt, versprochen.«
Da Jessamy wusste, dass Illium niemals ein Kind in Gefahr bringen würde, ging sie weiter.
Sie bog um die Ecke und steuerte auf die fensterlose hölzerne Halle und den davorliegenden Übungsplatz aus festgestampfter Erde zu. Dort erblickte sie jedoch nicht die markanten Flügel des jungen Engels, die ein überraschend unversehrtes Blau aufwiesen, sondern die dunkelgrauen Flügel eines Fremden. Dieser besaß einen viel muskulöseren Körper und so leuchtend rotes Haar, dass es wie Feuer aussah. In der Hand hielt er ein massives Breitschwert. Mit dem lauten Klirren von Stahl traf sein Schwert auf jenes, das
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