Erdwind
1
Wieder träumte sie von der Steinzeit. Beim Erwachen war sie enttäuscht, weil die Bilder so schnell schwanden und nur Kälte und seltsame, fremdartige Gerüche zurückließen. Wie lebhaft war doch die Erinnerung an jenen großen Hügel g e wesen, wie durchdringend der Klang der primitiven Meißel auf den Ste i nen, der in der stillen Sommerluft widerhallte. Und die vertrauten G e sichter, die sich in dem kleinen Raum drängten, und das erregte Geplapper, das in der feuchten Enge des Grabgewölbes so unwirklich und hohl klang. Fla c kerndes Licht hatte die Felswand erhellt, die den Gang begrenzte … Schmerz und Lust hatte sie erlebt … doch als sie beim Erwachen daran dachte, waren es nur bedeutung s lose Worte, und geblieben war ihr das Gefühl hohen Alters, rätselhaften, bizarren Tuns in der Mo r gendämmerung der menschlichen Kultur … Alles Vorherige war Traum gew e sen.
Der Traum zerfiel, doch Elspeth Mueller blieb noch ein paar M i nuten liegen und wartete ab, bis die Nachbilder sich völlig aufgelöst hatten und der Wald, in den sie blickte, vo l le Wir k lichkeit gewann. Das Lustgefühl verging, doch nicht der Schmerz. Der Schmerz blieb.
Ein Weilchen später richtete sie sich auf, um ihr Fußg e lenk zu untersuchen, das in dem niedrigen Unterschlupf, einem flüchtig aus Blaurinde und totem Gestrüpp errichteten Zelt, seine Schwi e rigkeiten hatte. Die Schnittwunde war tief, alles war voller Blut. Es war auf ihren Unterschenkeln g e trocknet und hatte das weiße Leder ihrer Mokassins durc h drungen, an denen sie stundenlang gearbeitet hatte und auf die sie so stolz war. Sie zog den Schuh von dem verletzten Fuß und erschauerte vor der fettigen Impr ä gnierung, weil ihr einfiel, woher das Fett stammte. Zögernd b e rührte sie den klaffenden Schnitt und zog unter Schmerzen die Wundrä n der auseinander. Ein spitziges Stück Blaurinde, Teil des b o genförmigen Rahmens ihres Unterschlupfs, war ihr, wä h rend sie schlief, in den Knöchel gedrungen. Vielleicht war es, da es unter Spannung gestanden hatte, abgesprungen; irgendwann in der langen Nacht hatte sie sich aufgespießt. Erwacht war sie nicht, aber noch im Traum hatte sie den Schmerz verspürt.
An diesen Schmerz, der ihren zweiten, unterbewußten Besuch jenes steinzeitlichen Hügels begleitet hatte, erinnerte sie sich jetzt wieder. Und an einen anderen. Seltsam, wie sich diese beiden, viele Jahre auseinanderliegenden eleme n taren Ere i gnisse so vage und doch in einem so logischen Zusammenhang vereinigen konnten – während eines kurzen Traumes, eines kurzen Tran s zendierens aus der normalen Zeit. Ein fast tödlicher Schmerz in der Kindheit und ein E r lebnis der jüngsten Vergangenheit (die Erforschung des H ü gelgrabes) waren im Halblicht ihres schlu m mernden Geistes zusammengeflossen.
Schmerzen waren ihr vertraut. Der rituelle Schmerz in i h rer P u bertät, der letzte, kaum noch ertragbare Eingriff bei der Jungfra u enweihe, und zwar einer ganz speziellen Form derse l ben – der Weihe zur magda, das heißt zur Frau ohne Brüste, ohne Kinder –, verfolgte sie jetzt immer öfter und stärker in den Stunden des Schlafes …
Als ob mein Hirn das Schwinden des Gedächtnisses spürt – und sie berührte ihre Brust –, als ob es wüßte, wie bald ich vergessen werde …
Doch in jenem alten Tal auf dem Planeten Erde hatte sie ke i ne Schmerzen gehabt. Gewiß, es schmerzte, wenn die anderen über ihre fast abseitige Fremdartigkeit lachten und ihre Witze mac h ten, wenn eine Freundschaft, die auf ganz natürliche Weise zur Liebe reifte, dann welkte und abg e schnitten wurde, weil ihr das fehlte, was jenes Ritual ihr g e nommen hatte.
Diese Jahre, diese zwanzig Jahre, die sie in der normalen Gesellschaft verbrachte, hatten vergiftet, was an ihrer Jun g fra u enweihe schön gewesen war. Wenn sie jetzt an ihren Heima t planeten dachte, so erschien er ihr als eine brutale Welt von barbarischen Sitten, eine schreckliche Welt, die hinter ihren Jalousien aus Stahl und Glas so primitiv war wie der Aeran mit seinen Schle u dern und Steinen.
Und doch – sie berührte die beiden blitzenden Juwelen, die fest und tief in die Haut ihrer Brust eingenäht waren –, und doch ist die Erde in mir, in meiner ganzen Rasse. Erde und Stein, eng verbunden mit dem blutvollen Leben meines Leibes …
Vielleicht deswegen fühlte sich Darren – fast noch ein Knabe, doch schon ein sehr erfahrener Jäger – von ihr so stark angez o gen.
,Steinfrau’
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