Erfolg
heraus, was in dieser kräftigen Frau an gesundem Zorn stak. Er sperrte sie auf. Das Krampfige an ihr verschwand. Sie fühlte sich befreit aus dem unsichtbaren Käfig. Es entstand, ohne viele Worte, eine neue Gemeinsamkeit zwischen ihnen.
Sonderbarerweise zog er aus dieser stillen, selbstlosen Arbeit Gewinn für sein Buch. Sein Stoff war in Bewegung gekommen, kreiste, regte sich, atmete: doch inmitten dieses lebendigen Stoffes lag immer noch starr, nicht hinausgediehen über bloße Erkenntnis, der Fall Krüger. Zuerst hatte Jacques Tüverlin ihn abseits liegenlassen, er war nicht wichtig für das Buch Bayern ; allmählich aber verbiß er sich darein, gerade den Mann Krüger und seinen Prozeß lebendig zu machen. Alle Schicksale waren berufen, mitzuwirken an der Höherführung der Art; aber auserlesen waren nur diejenigen, die andere zwangen, sie weiterzuleben, sie aufzubewahren für die Kommenden. Ob ein Schicksal für die Art fruchtbar wurde, hing nicht ab von seiner Größe und Bedeutung, auch nicht von seinem Träger, sondern nur von seinem Betrachter, seinem Dichter. Indem das Schicksal Martin Krügers von Jacques Tüverlin Besitz ergriff, bekam das Martyrium dieses toten Mannes Sinn, bekam Jacques’ eigene und Johannas Entbehrung Sinn. Es trieb ihn, den Mann Krüger zu dichten.
Daß er das zufällige Leben Martin Krügers genau kannte und selber darein verknüpft war, half ihm dabei nicht viel. Es kam nicht darauf an, wie Martin Krüger und sein Prozeß wirklich, ja ob er wirklich war. Kam es darauf an, ob Jesus von Nazareth aktenmäßig gelebt hatte? Ein Bild von ihm existierte, das der Welt einleuchtete. Durch dieses Bild war, nur durch dieses Bild, Wahrheit entstanden. Es kam darauf an, daß Jacques Tüverlin ein Bild Martin Krügers erlebte, das er der Welt als wahr aufzwingen konnte.
Immer deutlicher spürte er, wie ihm für diese Aufgabe Kraft zufloß aus dem dumpfen Zorn Johannas. Ihr Vorhabenverknüpfte sich geheimnisvoll mit seinem eigenen. Ihre dunkle Empörung schoß in sein Werk hinein, Leben zeugend. Sein Buch wurde gespeist von der Kraft Johannas, die Menschen für den toten Martin Krüger zu erhitzen. Manchmal schien ihm, daß, erlahmte sie, auch er erlahmen müsse.
Gegen Ende dieses Oktober erhielt er einen Brief von Kaspar Pröckl aus Nishnij Nowgorod. Kaspar Pröckl hatte die ganze Zeit geschwiegen. Auch jetzt erzählte er wenig von sich selber. Hingegen berichtete er ausführlich, wie er das Bild »Josef und seine Brüder« gefunden habe. Es hing im Museum einer kleinen Stadt an der Grenze des europäischen und des asiatischen Rußlands. Es hieß jetzt »Gerechtigkeit«, der andere Titel war gestrichen. Als Kaspar Pröckl das Bild besichtigte, stand davor eine Schulklasse von vierzehnjährigen Knaben und Mädchen. Nachdem man den jungen Menschen die Vorgänge auf dem Bild erklärt hatte, denn sie wußten nichts von der Geschichte Josefs, debattierten sie eingehend darüber, wieweit der Maler des Bildes bereits durchdrungen sei von kollektivistischem Geist, wieweit er steckengeblieben sei in den individualistischen Anschauungen der bürgerlichen Epoche.
Jacques Tüverlin hatte bei seiner neuen Arbeit die Auseinandersetzungen mit dem heftigen Menschen schmerzhaft entbehrt. Es freute ihn, daß Pröckl gerade bei diesem Stadium seiner Arbeit ihn höhnisch und sehr gegenständlich an den Maler Landholzer und an das Bild »Gerechtigkeit« erinnerte. Angeregt lief er vor der Anni Lechner auf und ab. Holte den dritten Band des »Kapitals« hervor, eines Buches von Karl Marx, das von Millionen als das Buch der Bücher verehrt wurde. Mit Anni Lechner an Stelle des abwesenden Kaspar Pröckl setzte er sich auseinander. Triumphierend, als boxte er den Kaspar Pröckl nieder, knallte er ihr einen Satz dieses Karl Marx hin: »Man muß die versteinerten Verhältnisse der deutschen Gesellschaft schildern und sie dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt. Man muß das Volk vor sich selbst erschrecken lassen, um ihm Courage zu machen.« Schließlich, als sei das die endgültigeWiderlegung des Briefes, suchte er eine Postkarte hervor, die er einmal während einer Debatte mit Pröckl an sich selber geschrieben hatte. »Lieber Herr Jacques Tüverlin, vergessen Sie nie, daß Sie nur dazu da sind, sich selbst und nur sich selbst auszudrücken. In aufrichtiger Verehrung Ihr redlichster Freund Jacques Tüverlin.« Unter wüsten Beschimpfungen gegen die Theorien Kaspar Pröckls
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