Erloschen
selbst Kind zu sein.«
»Und was denkst du?«
»Ich denke, es kommt daher, dass ich Kinder nicht aus stehen kann.«
Maggie lächelte, musste sich sogar zusammenneh men, um nicht zu lachen, denn Racine meinte es durchaus ernst.
»Hat Rachel nicht eine Tochter?«
»Ja, CariAnne, eine echte Nervensäge. Dauernd hat sie tausendvierzig Fragen. Und jedes Mal, wenn ich Scheiße sage, pfeift sie mich zusammen. Letzten Herbst hat sie mir auf meine Lieblingsschuhe gekotzt. Das waren Cole- Haan-Mokassins, und ich habe die geliebt. Aber den Gestank kriegst du aus dem Leder nie wieder raus. Ich musste sie wegschmeißen.«
»Und was ist passiert?«
»Ich habe mir ein neues Paar gekauft.«
»Nein, du Nuss, ich meine, was hat dich mit CariAnne versöhnt?«
Nun war es an Racine, mit der Schulter zu zucken. »Sie ist ein Teil von Rachel. Wie kann ich Rachel lieben und ihr Kind nicht?«
Ein Mann erschien, der beinahe den gesamten Türrahmen ausfüllte. Er trug eine Kakihose und eine Sportjacke.
»Sind Sie Kathleen O’Dells Töchter?«
Seine Stimme war tief und autoritär, aber seine Augen blickten freundlich. Er hatte Hände so groß wie Baseball handschuhe, und Maggie musste sich ermahnen, sie nicht anzustarren, weil ihr unwillkürlich der Gedanke kam, dass diese Hände gewiss die Blutungen an den Handgelenken gestoppt hätten.
»Ich bin Maggie«, sagte sie und stand auf. »Das ist Julia.«
Sie sparte sich die Erklärung, dass sie nicht beide Kathleens Töchter waren. Immerhin hatte Julia inzwischen zwei Selbstmordversuche ihrer Mutter in letzter Sekunde vereitelt und sich damit ein Recht erworben, als ihre Tochter bezeichnet zu werden – auch wenn das mehr Bürde als Ehre war.
Maggie streckte ihm die Hand hin und bemerkte sofort, wie sein Blick auf die Narben an ihren Handgelenken fiel.
»Nein, es liegt nicht in der Familie.«
Er wirkte skeptisch, doch Maggie hielt es für unnötig, ihm zu erzählen, dass ihr vor Monaten ein irrer Mörder die Hände mit Kabelbinder gefesselt hatte. Und dass selbiger Kabelbinder in ihre Haut geschnitten hatte, als sie einen Felsabhang hinuntergestolpert und nachts durch einen dunklen Wald gerannt war. Das Plastik hatte ihr so tief in die Haut geschnitten, dass sie es, als sie sich endlich aus den Fesseln befreien konnte, aus ihren Handgelenken herausziehen musste. Natürlich hatte das Narben hinterlassen, aber sie war niemandem eine Erklärung schuldig.
»Wie geht es ihr?«, fragte Racine, die nun neben Maggie stand.
»Ich habe ihr etwas zur Beruhigung gegeben. Sie will niemanden sehen. Vorerst wird sie schläfrig sein, aber in circa einer Stunde wäre es sicher gut, wenn eine von Ihnen sich eine Weile zu ihr setzt. Sie dürfen gerne so lange hierbleiben oder nach Hause fahren und wiederkommen. Im Empfangsbereich vor der Intensivstation gibt es Kaffee, und im Erdgeschoss ist eine Cafeteria.«
Er sagte ihnen noch, wie sie ihn erreichen konnten und wie es weitergehen würde. Maggie blendete ihn aus, weil sie all das schon zu oft gehört hatte.
Er ging, und Maggie und Racine sanken zurück auf die Couch, als ein Hund, ein braun-weißer Corgi, hereingetapst kam.
Maggie blickte auf und sah Dr. James Kernan mit zwei Styroporbechern, die er ihnen mit weit ausgestreckten Armen hinhielt.
»Der Kaffee ist schrecklich«, sagte er, »aber er hilft, die Zeit zu vertreiben.«
72
Sam hatte die Kamera auf ein Stativ gestellt. Es machte die Interviewten weniger nervös, wenn sie hinter dem Gestell blieb, statt die Kamera in der Hand zu halten und auf sie zu richten. Jeffery und sie hatten die Tür unverschlossen vorgefunden und das Haus leer bis auf ein bisschen Abfall in einer Ecke, einem Stapel alter Zeitungen und etwas, das wie ein Tablett mit Rattengift aussah.
Bis auf eine Lampe in der Mitte des Wohnzimmerbodens, die über eine Zeitschaltuhr gesteuert wurde, war kein Licht im Haus.
Sam schaltete eine Deckenleuchte ein, die Jeffery jedoch sofort wieder ausmachte.
»Wir brauchen mehr Licht. Ich habe keine Hintergrundbeleuchtung dabei.«
Aber er bestand darauf, dass sie kein zusätzliches Licht anstellte.
Sie trank von dem Kaffee, den Jeffery für sie mitgebracht hatte. Eigentlich brauchte sie kein Koffein. Ihr Adrenalinpegel reichte vollkommen aus, um sie wach zu halten. Umso seltsamer war, dass sie sich ein bisschen schwummrig und müde fühlte. Und sie hatte Mühe, die Augen auf einen festen Punkt zu richten. Deshalb hatte sie zuerst gar nicht bemerkt, dass Jeffery auf und ab lief.
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