Erschiess die Apfelsine
Meine Augen waren kaputt. Ich strich mir mit dem Handrücken darüber und spürte, dass sie feucht waren von einem ekligen kalten Weinen.
In der Dunkelheit fuhr ich falsch. Ich bremste und schob das Rad zurück, hielt nach Erkennungszeichen Ausschau. Schließlich erkannte ich den Weg wieder und hob das Rad in den Wald hinein. Die Zweige peitschten mir ins Gesicht, während ich versuchte, mich durchs Dickicht zu pressen. Ich musste mich unter großen Zweigen ducken. Bald konnte ich ihn erahnen. Eine dunklere Dunkelheit, schwärzer als schwarz. Der Bunker. Ich tastete mich vor und fühlte an der Stahltür. Sie war verschlossen. Also tastete ich mich zehn Meter weiter zur Kiefer. Fühlte den Stamm entlang, an der rauen Rinde. Ja, er war da, wo Pålle ihn zurückgelassen hatte, versteckt in einer Astgabel. Mit steifen Fingern konnte ich den Schlüssel herausziehen.
Die Stahltür ließ sich mit einem Knirschen öffnen. Ein rabenschwarzes Loch führte hinunter in die Katakomben. Stolpernd tastete ich mich voran. Es war kein Unterschied, ob ich die Augen schloss oder nicht. Mit der Stirn stieß ich gegen eine Betonkante, dass ich ins Schwanken kam. Vorsichtig! Hier war eine Öffnung. Nein, sie endete mit einer Wand. Dann da? Ich tastete mit dem Fuß jeden Schritt voran, hatte Angst, in irgendein Loch zu treten. Geschluckt zu werden.
Bald hatte ich mich verirrt. Ich versuchte mich zu erinnern, wie der Raum ausgesehen hatte. Die Panik wuchs. Ich musste es ruhig angehen lassen, logisch denken. Der Wand folgen und sehen, wohin sie mich führte. Irgendwo musste sie ein Ende haben.
Hier war das Ende. Eine Ecke. Ein Bolzen stand vor. Also war das die Bolzenecke. Die nächste war die Rissecke mit einem schrägen Riss. Die Nassecke, an der sich die Wand feucht anfühlte. Die Stinkeecke, in der es verrottet roch. Und dann wieder die Bolzenecke.
Ich ging im Kreis. Würde mich hier in der Dunkelheit im Kreis bewegen, bis ich hinfiel. Widerstrebend ließ ich mich auf die Knie sinken. Verließ die Wand und kroch stattdessen direkt ins Unbekannte.
Ein Loch. Der Boden öffnete sich, aber ich konnte rechtzeitig bremsen. Und da fühlte ich Eisen. Die Leiter hinunter in die Unterwelt, jetzt erinnerte ich mich wieder. Ein kurzes Klettern, und da war der Boden. Weiter nach vorn, vorsichtig …
Hoppla! Der Fuß stieß gegen etwas Weiches. Das war ein Karton. Runde Teile darin, eingedelltes Metall. Konserven. Ich war in Pålles innere Kammer gelangt. Hier lag eine Decke, da Matratzen. Etwas Längliches, Glattes, eine Kerze. Und dann schließlich eine kleine Schachtel, die wunderbar klapperte.
Der Lichtkegel schnitt ein Loch in die Dunkelheit. Ich wurde geblendet, die Augen brannten und liefen. Erst nach einer ganzen Weile konnte ich in das flackernde Kerzenlicht blinzeln. Es standen mehr Kartons hier als beim letzten Mal. Pappkartons voller Essenskonserven. In Plastiktüten fand ich Makkaroni, Salz, Reis und Mehl. Pålle meinte es ernst. Er wollte tatsächlich bereit sein, falls etwas passierte.
Mein Magen knurrte, und ich öffnete eine Dose mit Fleischklößchen in Sahnesoße. Ich aß den kalten Inhalt direkt aus der Dose und nahm eine Tafel Schokolade zum Nachtisch. Dann legte ich mich auf die Matratze und deckte mich mit allen Decken zu, die ich finden konnte. Ich sah, wie die kleine Kerzenflamme in der Kälte der Grotte flackerte.
Meine Gedichte gab es nicht mehr. Der Gedanke daran tat weh. Mama hatte das gelesen, was für mich am meisten bedeutet hatte. Sie hatte meine innersten Gedanken durchblättert und Panik bekommen. Und dann alles verbrannt. »Du brauchst Hilfe.« Das hatte sie mir gesagt. Eine Missgeburt, die geheilt werden musste.
Ich sehnte mich so sehr nach Lavendel. Versuchte mir vorzustellen, wie sie hier neben mir lag. Wie gut sie roch. Ihre Wärme, ihr schmaler Rücken. Sie und ich gegen den Rest der Welt.
Und wenn Pålle nun Recht hatte und die Welt unterging? Ein Krieg oder eine Weltepidemie, die Ausrottung der Menschheit. Nur Lavendel und ich, wir sollten noch übrig bleiben. Die letzten Überlebenden. Hier konnten wir bleiben, bis alles vorbei war, bis es niemanden sonst mehr gab. Bis alle Bosheiten und Ungerechtigkeiten ausgemerzt waren. Wenn alle Völker und Stämme tot waren, würde es keine Länder mehr geben. Keine Grenzen, um über sie zu streiten, keine Religion oder Politik, keine Arschgeigen, Idioten, Arme oder Reiche. Nur noch eine einzige riesige Welt, in der die Körper langsam verrotteten und unter
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