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Erschiess die Apfelsine

Erschiess die Apfelsine

Titel: Erschiess die Apfelsine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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zuhören, wenn ich meine Gedichte vorlas?
    Da gab es nur einen.
     
    Piep. Pause. Piep. Pause. Wieder Piep, piep, piep … Klick! »Johansson.«
    Eine Männerstimme. Ich räusperte mich schnell.
    »Hm, ich möchte Lavendel sprechen.«
    »Und wen kann ich ihr melden?«
    »Ääh, hust … Leonardo«, log ich.
    »Leonardo, tatsächlich, ich erkenne deine Stimme gar nicht wieder. Du bist nicht vielleicht einer ihrer vielen Bewunderer?«
    »Hm … hust …«
    »Weißt du, sie muss ein bisschen abgeschirmt werden. Man kann nicht alle ihre kleinen emsigen Bewunderer vorlassen, denn dann würde sie ihre Hausaufgaben nie schaffen. Deshalb haben wir eine Warteliste.«
    »Was?«
    »Na, halt eine Liste, damit es zu keinen Überschneidungen kommt. Maximal zwei am Abend, das reicht, und vielleicht drei oder vier am Wochenende. Dates, meine ich. Kommst du mit?«
    »Ja, schon.«
    »Und höchstens vierzig Minuten pro Treffen. Sie muss ja ihre Schularbeiten auch noch schaffen. Nicht, dass sie wirklich arbeitet, meistens sitzt sie nur da und träumt, du weißt ja wohl, wie sie ist.«
    »Aber …«
    »Leonardo war also der Name. Wenn wir dich übermorgen reinschieben, um 17.40 Uhr, ach nein, da kommt ja schon Niklas. Und an den folgenden Tagen Laban, Algot, Olof, Erik, Lelle, Fabian und … da fällt mir ein, Daniel hat abgesagt. Am nächsten Sonntag zwischen zwei und drei. Passt das?«
    »Häh?«
    »Na, zwischen zwei und drei Uhr nachts, natürlich. Ja, das ist das Einzige, was noch frei ist. Wenn du sie nicht treffen möchtest, während sie scheißt?«
    »Was?«
    »Ja, das macht sie so ungefähr einmal am Tag, und da könntest du eine Weile bei ihr sitzen und ihr das Papier abwickeln, ich werde dich reinschreiben, au …!«
    Es raschelte und knisterte im Hörer. Mehrere Rufe und dumpfes Rumsen.
    »Hallo«, war plötzlich Lavendels Stimme zu hören.
    »Äh …«
    »Hallo, Leonardo, das war mein schrecklicher großer Bruder, der macht immer so einen Blödsinn, man sollte ihn erwürgen.«
    »Hier ist nicht Leonardo.«
    »Leonardo?«
    »Nicht Leonardo. Ich bin's.«
    »Wer?«
    »Der die Treppe runtergeflogen ist. In der Schule.«
    Eine Zeitlang blieb es still. Aber sie legte nicht auf.
    »Was willst du?«, war schließlich zu hören.
    »Dich treffen.«
    »Jetzt?«
     
    Der Herbst schmiegt sich eng an den Jüngling, er spürt ihn am Rücken. Er atmet ihm in den Nacken, es ist ein Duft von Holzspänen, alten Holzschuppen, einer leeren Obstschale, über die man sich beugt, an der man schnuppert. Der Herbst riecht wie der kleine gebogene Stiel eines Apfels, wie die Birnenschale im Moos, wie etwas Feuchtes, das verrottet, aber immer noch da ist. Es ist die Sanftheit des Pfirsichs am Handgelenk, die leichte Säure, wenn man eine Apfelsine schält, der kleine Schreibmaschinenpunkt eines mikroskopischen Tropfens auf der Oberlippe. Der Herbst wirft sich rittlings hinauf in die nackten Birken, er streichelt die silberweiche Birkenrinde, fährt mit seinem Windhaar durch die Nadelborsten der Kiefern, sieht einen schlafenden Vogel, hört ihn von der Zeit träumen, als er noch ein Kind war. Der Jüngling da unten bleibt stehen. Warum hat er keinen Namen? Er ahnt, dass ihn etwas berührt, und der Herbst lacht über seine Verwunderung. Er blättert zwischen den letzten Blättern des Baumes, sie sterben, während er auf ihnen schreibt, sie fallen wie daunenleichte Gedichte und verströmen ihren Duft. Nach Thymian und Rosmarin und einem ganz kleinen Hauch von Zimt. Und der Jüngling streckt seine Zungenspitze in die Dunkelheit und probiert. Weiß, dass sie da ist.
     
    Ich stand vor ihrem Haus und hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen. Jemand stand da und schaute in den Abend hinaus, ein Schatten in dem kalten Lampenschein.
    »Bist du da?«
    Es war Lavendel. Ihre Stimme war zart. Ich konnte immer noch flüchten.
    Ich trat aus den Schatten hervor. Blieb stehen, spürte, wie mein Puls brannte.
    »Hej.«
    »Wollen wir ein bisschen gehen?«
    Wir marschierten zwischen den sich auftürmenden Häusern los. Der Schein der Fernsehbildschirme aus Hunderten von Wohnzimmern prasselte auf uns nieder. Sie trug ihre abgewetzte schwarze Lederjacke und dunkle Jeans und hatte die Hände vor der Brust verschränkt. Keiner von uns sagte etwas. Ich traute mich kaum, sie anzusehen, alles konnte so schnell kaputt gemacht werden. Stattdessen gingen wir schweigend, Schritt für Schritt, ohne zu wissen, wohin. Es schien, als führte uns jemand.

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