McDermid, Val
Val McDermid
Vatermord
Ein neuer Fall für Carol Jordan
und Tony Hill
Thriller
Aus dem Englischen von Doris
Styron
Die englische Originalausgabe
erschien 2009 unter dem Titel »Fever of the Bone« bei Little, Brown, London.
Nicht Fühlen, das von Mensch
zu Mensch besteht
Lindert der Knochen
Fieberpein.
T.S. Eliot,
Unsterblichkeitswehen
Am Ende fließt dann doch immer
Blut. Über manches Unrecht kann man hinwegkommen. Es abhaken als eine weitere
Lektion, die man gelernt hat, und als Gefahr, die es in Zukunft zu umgehen
gilt. Aber bestimmte Arten von Verrat verlangen nach einer Reaktion. Und
manchmal gibt es keine andere als Blutvergießen.
Nicht dass man am Töten selbst
Spaß hätte. Das wäre ja pervers. Und du bist nicht pervers. Es gibt einen
Grund für das, was du tust. Es geht darum, dein Leben wieder in Ordnung zu
bringen. Du musst so handeln, um dich besser fühlen zu können.
Die Leute reden viel davon,
dass man wieder von vorn anfangen müsste. Aber nicht viele tun es tatsächlich.
Sie meinen, dass ein Umzug, eine andere Arbeit oder eine neue Beziehung alles
verändern würden. Aber du verstehst, was es wirklich bedeutet. Deine Liste
abzuarbeiten, das war ein Akt der Reinigung. Es ist wie ins Kloster zu gehen,
alle weltlichen Besitztümer zu verbrennen und zuzuschauen, wie alles, das
einen an die Erde gebunden hat, in Flammen aufgeht. Erst wenn diese Geschichte
sich in Feuer und Rauch verwandelt hat, kannst du richtig von vorn anfangen mit
ganz neuen Hoffnungen und Zielen. Dann kannst du das annehmen, was möglich
ist und was hinter dir liegt.
Dies ist deine perfekt
ausgewogene Rache. Der Verrat wiegt den Verrat auf, Leben gegen Leben, Verlust
gegen Verlust. Wenn der letzte Atemzug ausgehaucht ist und du dich mit Messern
und Skalpellen an deine Arbeit machen kannst, ist es wie eine Befreiung. Und
wenn das Blut herausrinnt, stellst du fest, dass du endlich genau das Richtige
tust, die einzig logische Handlung, die dir unter diesen Umständen bleibt. Natürlich
werden manche das anders sehen. Manche sagen vielleicht, dass NIEMAND es so
sehen wird wie du. Aber du weißt, andere werden dich dafür loben, dass du diese
Richtung eingeschlagen hast, sollten sie jemals herausfinden, was du getan
hast, was tu tust. Menschen, deren Träume zerstört worden sind wie deine. Sie
würden es absolut verstehen. Und sie würden wünschen, sie hätten die Mittel,
so etwas zu tun.
Wenn diese Sache bekannt wird,
könntest du eine Welle auslösen.
1
Die gewölbte Decke des Raumes
wirkte wie ein riesiger Verstärker. Ein Jazz-Quartett spielte dezent gegen das
Stimmengewirr an, konnte aber gegen dessen Lautstärke nicht gewinnen. Die Luft
war geschwängert von einem Gemisch aus Gerüchen: Essensdüfte, Alkohol, Schweiß,
Testosteron, Rasierwasser und die verbrauchte Atemluft von etwa hundert
Personen. Vor noch nicht allzu langer Zeit hätte der Zigarettenqualm die
Ausdünstungen der menschlichen Körper überdeckt, doch wie die Wirte seit dem
Rauchverbot entdeckt hatten, sind Menschenmassen viel weniger wohlriechend, als
sie glauben.
Es gab nur wenige Frauen im
Saal, und die meisten trugen Tabletts mit Häppchen und Getränken. Wie es in
diesem Stadium jeder Feier aus Anlass einer Pensionierung bei der Polizei
gewesen wäre, hatte man die Krawatten gelockert, und die Gesichter waren
gerötet. Aber die Hände, die sonst vielleicht verstohlen hier und da hin
gewandert wären, hielten in der Gegenwart so vieler höherer Polizeibeamter
still. Nicht zum ersten - und wahrscheinlich auch nicht zum letzten - Mal
fragte sich Dr. Tony Hill, wie es ihn um Himmels willen hierher hatte
verschlagen können.
Die Frau, die durch die Menge
auf ihn zukam, war wohl die einzige Person im Saal, mit der er aus freien Stücken
Zeit hätte verbringen wollen. Mord hatte sie einander näher gebracht, hatte das
gegenseitige Einvernehmen geschaffen und Respekt für den Intellekt und die
Integrität des anderen entstehen lassen. Zudem hatte Detective Chief Inspector
Carol Jordan seit Jahren als einzige Kollegin die Grenze zu dem Bereich überschritten,
den er wohl Freundschaft nennen musste. Manchmal gestand er sich ein, dass
Freundschaft nicht das richtige Wort war für das Band, das sie trotz ihrer
komplizierten Vergangenheit zusammenhielt. Aber selbst nach jahrelanger Erfahrung
als klinischer Psychologe glaubte er, keine angemessene Definition dafür
finden zu können. Schon gar nicht jetzt und hier
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