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Erschiess die Apfelsine

Erschiess die Apfelsine

Titel: Erschiess die Apfelsine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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Ich zog meinen Fahrradschlüssel heraus.
    »Ja, dann tschüs«, sagte ich.
    »Warte«, sagte sie.
    Und dann nahm sie mich ganz schnell in die Arme. Die Tür schlug zu, und sie war weg. Ich berührte die Luft, die sie eben noch umgeben hatte. Sie hing dort wie eine unsichtbare Tüte mit einem säuselnden Geräusch. Ich trat in die Blase hinein, blieb stehen, wartete, dass sie platzen würde.
     

MONOLITH 3
     
    Die Wohnung war dunkel, als ich nach Hause kam, ich war froh, meine Ruhe zu haben. Mein Kopf sauste und sang, jemand hatte ihn mit Gas gefüllt.
    Sie hatte mich umarmt.
    Okay, nur so eine Freundschaftsumarmung, aber sie war noch da. Ihre Schultern, ihre Brust, ihre Hüften dicht an mir, ihre babysanfte Wange, das Haar, das frisch gewaschen duftete, die Arme, die mich umarmt hatten. Ich spürte alles, als würde es gerade noch einmal passieren.
    Ich sollte ihr meine Gedichte vorlesen. Allein der Gedanke ließ einen prickelnden Schaum durch meinen Körper sausen. Ich hatte ja noch nie jemandem gezeigt, was ich geschrieben hatte. Nicht auf diese Art und Weise, direkt von Aug zu Aug. Ein Gedicht an eine Pinnwand zu heften, das war einfacher gewesen, anonym und geschützt. Aber morgen sollte ich ihr gegenüber stehen und meine eigene Stimme hören. Sehen, wie sie zuhörte, reagierte.
    Übrigens: Sollte ich stehen? Ich ging zum Flurspiegel und probierte eine poetische Lesehaltung aus. Die Beine ein wenig gespreizt, den einen Fuß nach außen gerichtet, der Oberkörper energisch schaukelnd im Takt zu den Worten. Nein, das sah ja aus, als ruderte ich einen Kahn. Besser, mit übergeschlagenen Beinen in einer netten Haltung dasitzen. Mit einer Zigarette in der Hand. Aber ich rauchte ja nicht. Ich konnte mir eine Zigarette ausleihen und sie einfach halten und dann mit halb geschlossenen Augen lesen, als träumte ich. Ich nahm einen Kugelschreiber und versuchte es.
    Nein, das sah gekünstelt aus. Vielleicht sollte ich lieber ein wenig herumgehen, die Bühne auf natürliche Art und Weise einnehmen. Ich versuchte mich entspannt zu bewegen, merkte aber, dass ich einen steifen Po hatte. Versuchte mit den Hüften zu wippen, aber das sah nur angestrengt aus. Schweiß brach mir aus. Vielleicht war es besser, sich auf den Text zu konzentrieren. Die Worte, die reine Kraft der Worte an sich. Zu versuchen, sie ihr nahe zu bringen.
    Also nahm ich das Michelbild ab und legte es auf den Küchentisch. Dann pulte ich an der Rückwand, um den wachsenden Stapel mit meinen Gedichten herauszuholen.
    Leer.
    Sie waren nicht da.
    Ich begriff gar nichts. Waren sie irgendwie herausgerutscht, auf den Boden gefallen? Nein, das war unmöglich. Ich ließ mich auf den Küchenstuhl sinken und schnappte nach Luft. Spürte, wie mir schwindlig wurde, wie ich das Gefühl im Körper verlor.
    »Du brauchst Hilfe.«
    Plötzlich stand sie da. Ein Gespenst. Eine Ninjakriegerin, die zwischen den Schatten gewartet hatte. Die Augen waren glänzende Knöpfe, der Mund gespannt vor Verachtung und Entschlossenheit.
    »Ich kenne Leute, die dich wieder in Ordnung bringen können. Im Krankenhaus. Ich habe schon angerufen, aber da gibt es eine Warteliste. Du hast in zwei Wochen einen Termin.«
    »Die Gedichte«, stammelte ich.
    »Leuten in die Augen schießen«, sagte sie. »Bombardieren und in die Luft sprengen. An so etwas denkst du also.«
    »Aber das sind doch Gedichte«, versuchte ich es. »Meine Gedichte, Mama.«
    »Die sind weg.«
    »Was meinst du damit?«
    »Die gibt es nicht mehr.«
    Ich ließ ein gepresstes Jammern hören und sprang zur Balkontür. Draußen stand der Grill mit einem Haufen schwarzer, herumwirbelnder Rußflocken.
    »Es ist nur zu deinem Besten«, hörte ich Mamas Stimme. »Du wirst das später verstehen, eines Tages wirst du mir danken.«
    Jacke. Schuhe. Raus, weg hier.
    »Warte, wir müssen reden. Du kannst nicht die ganze Zeit nur davonlaufen.«
    Ich warf mich auf mein Rad und trampelte los. Schneller, immer schneller, bis ich mich aus der Anziehungskraft der Erde löste und weiterfuhr, direkt in den dunklen Nachthimmel.
     
    Der Wald. Schwarz und verwachsen. Wie mein Leben, wie mein krankes, verfluchtes Gehirn. In der Nachtkälte roch der Wald ganz anders, scharf und modrig. Metallisch, Messerklinge. Feuchtes Hundefell. Blut.
    Die Fahrradlampe flackerte über den Waldweg, der Vorderreifen rutschte in Kuhlen, graues Wasser spritzte hoch. Die Kreuzung sauste vorbei. Es war schwer, in der Dunkelheit etwas zu erkennen, alles floss ineinander.

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