Ersehnt
Daisuke, der zweihundertfünfundfünfzig war. Jess, der erst hundertdreiundsiebzig Jahre auf dem Buckel hatte, aber viel älter aussah, nickte Reyn steif zu, als der gerade seine Zimmertür zuzog. Ich versuchte, mir nicht vorzustellen, wie Reyn dort schlief, dort in seinem Bett lag ...
In dem großen, schlichten Esszimmer war der Tisch für zwölf Personen gedeckt. Auf der Anrichte aus Eichenholz standen die dampfenden Schüsseln, die auch in dem großen vergoldeten Spiegel an der anderen Wand zu sehen waren.
Als ich mich hinter Charles, einem weiteren Schüler, einreihte, erhaschte ich im Spiegel einen Blick auf mich. Bevor ich herkam, hatte ich mich gestylt wie ein Goth aus den 90erJahren, mit stachligen schwarzen Haaren, dickem Augen-Make— up und so leichenblass wie ein Junkie. Total ironisch fand ich, dass ich jetzt ganz anders aussah als die letzten dreihundert Jahre - weil ich aussah wie ich selbst. Meine Haare waren von Natur aus weißblond, wie es bei meinem isländischen Clan üblich war. Mein ausgezehrtes Gesicht und mein dürrer Körper hatten etwas an Rundungen zugelegt und sahen jetzt gesünder aus. Ohne die farbigen Kontaktlinsen hatten meine Augen ihre dunkle, fast schwarze Originalfarbe. Ob ich jemals nicht mehr überrascht sein würde, wenn ich mich selbst sah?
Ich nahm einen Teller und stellte mich in die Schlange. Eine weitere Veränderung war meine Ernährung. Anfangs hatte ich bei dem einfachen Essen, das überwiegend aus unseren eigenen Gärten kam, das Gefühl gehabt, ich würde daran ersticken. Kein Mensch kann unbegrenzt Ballaststoffe in sich reinstopfen. Aber jetzt hatte ich mich daran gewöhnt - daran gewöhnt, das Grünzeug zu pflücken, auszugraben, zuzubereiten und zu essen, wann immer ich damit an der Reihe war, eines dieser Dinge zu tun. Natürlich hätte ich immer noch alles für eine Flasche Champagner und einen schön weichen Schokoladenkuchen gegeben, aber zumindest kreischte ich nicht mehr innerlich, wenn sie mir Grünkohl vorsetzten.
»Hallo allerseits«, sagte jemand und Solis (Lehrer) kam aus der Küche. Ich hatte gehört, dass er ursprünglich aus England stammte, aber wie die meisten von uns hatte er keinen erkennbaren Akzent. Brynne hatte mir erzählt, dass er ungefähr vierhundertdreizehn war, aber er sah aus wie Mitte oder Ende zwanzig. Asher, der am Ende des Tisches saß, war der vierte Lehrer und Rivers Partner - verheiratet waren sie aber wohl nicht. Er war ursprünglich Grieche und gehörte zu den Älteren, was bedeutete, dass er mit seinen sechshundertsechs—unddreißig Jahren aussah wie Anfang dreißig. Die drei und River gaben ihr Bestes, uns alles über Kräuter undKristalle, Öle und Essenzen, Zauberei und Magie, Sterne, Runen, Verwünschungen, Metalle, Pflanzen, Tiere und so weiter beizubringen. Im Grunde also über jedes verdammte Ding auf der Erde. Denn es war alles miteinander verbunden - mit uns, der Magie, der Kraft. Ich nahm erst seit fünf Wochen Unterricht und mein Kopf stand jetzt schon kurz vor dem Explodieren. Und das, obwohl ich - was mein Lernlevel betraf - sozusagen noch mit Bauklötzen im Kindergarten spielte.
»Solis!«, sagte Brynne und schwenkte zur Begrüßung ihre Gabel. Wie gewöhnlich trug sie eine farbenfrohe Kombination aus Kopftuch, Schal, Pullover, Overall und Arbeitsstiefeln. Ihrer großen, schlanken Modelfigur stand das Outfit perfekt. Sie war zweihundertvier und die Tochter (eines von elf Kindern!) eines amerikanischen Ex-Sklavenhalters und einer Ex-Sklavin.
Ich stieg vorsichtig über die lange Bank am Esstisch, um Lorenz nicht mit meinen knöchelhohen Chucks ins Kreuz zu treten. Ich hasste diese Bänke. Stühle. Was sprach denn gegen Stühle? River hatte irgendwo einen Kasten für »Ideen« aufgestellt, damit wir nützliche Vorschläge machen konnten. Ich hätte da so einige Ideen.
»Du bist wieder da!«, sagte Anne und küsste Solis erst auf die eine und dann auf die andere Wange.
Solis lächelte, was ihn mehr denn je aussehen ließ wie einen kalifornischen Surfertypen. Das dunkelblonde Haar umlockte seinen Kopf wie ein unordentlicher Heiligenschein und irgendwie hatten seine Bartstoppeln immer genau die richtige Länge - nie zu kurz oder zu lang.
Es folgte ein Chor aus Willkommensgrüßen und auch River küsste ihn zur Begrüßung.
Ich hielt den Kopf gesenkt und mampfte mich durch ... Himmel, was war das? Kürbisauflauf? Wer dachte sich denn so was aus? Und
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