In der Hitze der Nacht
1. KAPITEL
Sie würde sterben – ohne jeden Zweifel. Fast konnte sie die Schlagzeilen schon vor sich sehen: „Filmsternchen bei Busunfall umgekommen. Karrieretraum mit dem Leben bezahlt.“
Obwohl Ivy James gerade die weibliche Hauptrolle neben Hollywoods heißestem Schauspieler bekommen hatte, fühlte sie sich absolut nicht wie ein Star. Sicherlich hatte sie nicht erwartet, von einer Stretchlimousine zu einem Fünf-Sterne-Hotel chauffiert zu werden. Dennoch hatte sie gehofft, dass zumindest irgendein Mitglied der Filmcrew sie am Flughafen abholen würde. Stattdessen war ihr nichts anderes übrig geblieben, als sich an ihre Reisebeschreibung zu halten und den fünfzehn Kilometer weiten Weg von Veracruz nach Pancho Viejo, einem entlegenen Städtchen in den Bergen, in einem öffentlichen Bus zurückzulegen. Und darin saß sie jetzt todmüde, verschwitzt und zudem noch erstarrt vor Angst, weil die Fahrt durch den mexikanischen Dschungel an Selbstmord zu grenzen schien.
Die Straße war voller tiefer Schlaglöcher, und der altersschwache Bus neigte sich samt Schutzblech und Dachgepäckträger bedrohlich zur Seite Richtung Gestrüpp. Der Fahrer schien sich für einen Formel-1-Piloten in einem Rennwagen zu halten. Während der einstündigen Fahrt über steile Bergstraßen waren in Haarnadelkurven zweimal andere Busse entgegengekommen. Ivy hatte jedes Mal schnell die Augen zugemacht. Es war ja auch gut gegangen – irgendwie –, aber das laute Hupen und das Quietschen der Bremsen würde sie nicht so bald vergessen.
Sie hielt sich an der kleinen Reisetasche auf ihrem Schoß fest und hoffte inständig, sich nicht übergeben zu müssen. Dann warf sie einen Blick auf die alte, faltige Frau neben ihr, die offensichtlich mit geschlossenen Augen lautlos einen Rosenkranz betete. Sofort fühlte sie sich in dem Glauben bestätigt, dass ihr Leben in Gefahr war.
In dem überfüllten Bus saßen einige Leute zu dritt auf einem Sitz. Andere standen im Gang und umklammerten mit beiden Händen die Haltegriffe. Die Luft war heiß und stickig. Zudem roch es nach Körperausdünstungen, Dieselabgasen und Lebensmitteln. Ivy war so sehr damit beschäftigt, ihre Übelkeit zu unterdrücken, dass selbst die exotische Landschaft mit der üppigen Vegetation, den tiefen Schluchten und atemberaubenden Wasserfällen sie nicht ablenken konnte.
Der Hosenanzug aus Leinen, den Ivy in New York noch für das passende Outfit gehalten hatte, war nach der langen Reise völlig zerknittert. Die Bluse klebte am Körper, und die Füße in den leichten Sandalen taten ihr weh.
Als ein plötzlicher Luftzug im Bus den würzigen Geruch von Chilischoten zu ihr herüberwehte, fluchte Ivy leise und suchte hektisch in ihrer Handtasche nach Dragees gegen die Übelkeit. Sie entdeckte noch drei davon in einer alten Packung, steckte sie in den Mund und betete, dass sich ihr Magen wieder beruhigen würde. Da sie nicht erwartet hatte, dass die Fahrt so lange dauern würde, nahm sie erneut ihre Reisebeschreibung zur Hand. In Pancho Viejo stand demnach eine Transportmöglichkeit für sie bereit, die sie zur Hacienda la Esperanza bringen würde. Wo genau war Pancho Viejo überhaupt? Der Busfahrt nach zu urteilen, musste der Ort irgendwo in den Bergen nördlich von Veracruz liegen.
Die Ereignisse hatten sich derart überschlagen, dass, bevor ihr Agent sie eilig zum Flughafen gebracht hatte, sie nicht dazu gekommen war, sich im Internet über die Region zu informieren. Sie war nach Dreharbeiten in Montreal erst seit knapp einer Woche wieder zurück in New York gewesen, als ihr Agent sie wegen der sensationellen Neuigkeit angerufen hatte. Ivy war zu sprachlos gewesen, um zu fragen, warum Finn Mac-Dougall ausgerechnet ihr in seinem neuesten Film die weibliche Hauptrolle neben Hollywoods Superstar Eric Terrell anbot. Wenn sie den Vertrag nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, hätte sie gedacht, dass sich jemand einen schlechten Scherz mit ihr erlaubte.
Finn Mac Dougall war ein großartiger, unglaublich erfolgreicher Regisseur und genoss in den Filmstudios Hollywoods einen Ruf, der nur noch mit dem Steven Spielbergs vergleichbar war. Laut ihrem Agenten hatte Mac Dougall sie in mehreren kleinen Independant-Filmen gesehen und fand sie perfekt für sein neustes Projekt. „Eye of the Hunter“ sollte es heißen. Die angebotene Gage hatte Ivy den Atem verschlagen. Mac Dougall, der schon zweimal den Academy Award gewonnen hatte, war auf spannungsgeladene und aufregende Actionfilme
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