Ersehnt
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»Ich will dich.« Reyns tiefe, eindringliche Stimme schien von allen Seiten zu kommen. Was kein Wunder war, weil er mir ungemütlich dicht auf den Pelz rückte, als ich gerade dabei war, ein großes Glasgefäß mit Basmatireis aus dem Halbzentnersack nachzufüllen, den wir in der Vorratskammer aufbewahren.
Ist das zu fassen: »Wir.« Ich rede jetzt dauernd von »wir«, als würde ich wirklich nach River's Edge gehören, in dieses Rehazentrum für gestrauchelte Unsterbliche. So eine Art Zwölfstufenprogramm. Nur dass es bei mir eher hundertelfundelfzig Stufen sein dürften. Ich war jetzt zwei Monate hier und hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde, gut vierhundertfünzig Jahre schlechten Benehmens auszumerzen. Bestimmt noch ein paar Wochen. Wahrscheinlich so sieben oder acht Jahre. Oder länger. O Graus.
Ich drückte mich dichter an die große Platte des Küchentischs und hoffte nur, dass ich den Reis nicht überall hinschütten würde, denn Gott weiß, was für eine Schweinearbeit es ist, diesen Kleinviehmist wieder aufzusammeln.
»Du willst mich auch.« Ich konnte beinahe hören, wie er immer wieder die Fäuste ballte.
»Will ich nicht. Geh weg.« Willkommen bei der Freakshow, die sich Nastasjas Liebesleben schimpft. Es ist nichts für Leute, die zartbesaitet sind. Oder einen schwachen Magen haben.
Nastasja: C'est moi. Die nette Unsterbliche von nebenan. Allerdings ohne den netten Teil. Das muss ich ehrlich zugeben. Vor ein paar Monaten musste ich leider feststellen, dass ich mir mit meinem Partyleben das Gehirn so weichgespült hatte, dass von mir nur noch ein kläglicher, gefühlloser Rest übrig geblieben war, und da habe ich Hilfe bei River gesucht, einer Unsterblichen, die ich 1929 kennengelernt hatte. Und jetzt hockte ich hier im ländlichen Massachusetts und lernte, eins zu sein mit der Natur, der Magie, dem Frieden, der Liebe, der Harmonie und was nicht noch allem.
Oder zumindest lernte ich, dem Drang zu widerstehen, mich kopfüber in einen Häcksler zu stürzen.
Es gab hier noch mehr Unsterbliche: vier Lehrer und zurzeit acht Schüler. Wie mich. Und Reyn, den Wikinger-Wunderknaben. Zum Beispiel.
Reyn: der Dorn in meinem Fleisch, der Albtraum meiner Vergangenheit, Mörder meiner Familie, ständiges Ärgernis meiner Gegenwart und - oh, ja - der heißeste, heißeste, wundervollste, umwerfendste Typ, den ich in den letzten vierhundertfünfzig Jahren getroffen hatte. Der, dessen Anblick mich heimsuchte, wenn ich zitternd in meinem kalten; schmalen Bett lag. Der, dessen glühende Küsse ich in Gedanken immer wieder durchlebte, wenn ich mich erschöpft und schlaflos herumwälzte.
Ach so, welche glühenden Küsse? Nun, vor ungefähr zehn Tagen war uns beiden quasi die Sicherung durchgebrannt und wir hatten der unerklärlichen Anziehungskraft nachgegeben, die sich seit meiner Ankunft zwischen uns aufgebaut hatte. Darauf folgte dann die ernüchternde Erkenntnis, dass seine Familie all meine Angehörigen ermordet und meine Familie wiederum einen Haufen von seinen Leuten auf dem Gewissen hat. Das ist unser gemeinsames Erbe. Und wir sind verrückt nach einander. Witzig, was? Ich meine, wenn man hört, dass sich andere Paare streiten, weil sie verschiedenen Religionen angehören oder einer der beiden Veganer ist oder so, kann ich nur sagen, Leute, stellt euch nicht so an, es gibt Schlimmeres.
Auf jeden Fall verfolgte mich Reyn seit unserer Knutschaktion/ schrecklichen Erkenntnis mit der Ausdauer und Erbarmungslosigkeit eines Winterkriegers. Und doch hatte er
sich nicht dazu durchringen können, abends an meine Tür zu klopfen - und das, obwohl er in seinem Leben schon Hunderte Türen eingetreten, aufgebrochen oder in Brand gesteckt hatte.
Nicht, dass ich das wollte oder wüsste, was ich tun sollte, wenn er es tatsächlich täte.
So in meine Welt geschleudert zu werden, ist ein bisschen viel auf einmal? Nun, so geht es mir jeden Morgen, wenn ich die Augen aufmache und feststelle, dass ich immer noch ich bin - und immer noch putzmunter auf Erden.
Draußen war das Spät-Dezemberlicht, so dünn und grau wie Abwaschwasser, bereits einer Dunkelheit gewichen, wie man sie nur noch auf dem Lande sieht. Wo ich mich befinde. »Warum weichst du mir aus?« Normalerweise hielt Reyn seine Emotionen unter Verschluss. Aber ich wusste, wie er sein konnte - die ersten hundert Jahre meines Lebens hatten Reyn und sein Clan meine Heimat Island und den ganzen Norden Skandinaviens
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