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Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kutzmutz
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ist ein Stück, das Novalis als Nr. 125 ans Ende seiner Blütenstaub-Fragmente gesetzt hat, die in Auswahl 1798 erschienen sind und im Kern die ganze romantische Theorie der Literatur enthalten. Es übermittelt dem Leser die Aufforderung, selbst zum Autor zu werden und sich dafür zu den eigenen Texten und den Texten anderer so zu stellen, dass man sich lesend und schreibend durch ein Netzwerk bewegt. Wer das tut, folgt dem Blütenstaub-Programm. »Fragmente wie diese«, heißt es im 104. Textstück, »sind literärische Sämereien.« Wer sie liest, dem sind sie in den Kopf gepflanzt. Und wenn sie in größeren Werken aufgehen, die der Leser selber schreibt, dann haben sie ihre Aufgabe erfüllt.
    Das ist ein revolutionäres Programm. Hatte man doch eigentlich gedacht, dass sich der Leser dem Autor unterordnen muss und deshalb stumm zu entschlüsseln hat, was in den Text hineingelegt wurde. Novalis dreht die Hierarchie um. Der wahre Leser ist nicht die niedere, er ist die höhere Instanz. Er ist kein passiver Rezipient. Im Gegenteil. Er setzt auf eigene Faust fort, was der Autor begonnen hat. Der ist (wenn er ein wahrer Autor ist oder war) nämlich selbst nichts anderes als ein Leser gewesen. Er hat sich aus seinen Lektüren Material zusammengesucht und hat es zusammengebaut, um einen neuen Text daraus zu machen. Er war selbst einmal die höhere Instanz und gibt nun das, was er geschrieben hat, an den nächsten Leser als nächst höhere Instanz weiter. Und so weiter. Und immer so weiter. Jede produktive Lektüre setzt den einmal begonnenen Prozess des Umschreibens und Weiterschreibens fort.
    Die Verfahren, die dieser Forderung des Umschreibens und Weiterschreibens entsprechen, sind heute gut bekannt. Sie kommen nicht nur in den avancierten Künsten der Moderne und Postmoderne zum Einsatz. Sie gehören zu den Grundtechniken in der elektrifizierten und digitalisierten Medienkultur überhaupt. Kopieren (als Vervielfachen, durch das sich das Original verändert). Montieren (als Zusammenbauen von Stücken und Stellen zu einem neuen Werk, bei dem die ›Nähte‹ und ›Klebestellen‹ gut sichtbar bleiben). Zitieren (als Integrieren von Stücken und Stellen in ein neues Werk, bei dem die ›Nähte‹ und ›Klebestellen‹ fast unsichtbar werden). Sampeln (als Hineinmischen von Teilstücken in ein neues Werk, in dem die Einzelteile so aufeinander abgestimmt sind und ineinander übergehen, dass sie sich direkt miteinander verbinden). Covern (als dynamische Interpretation eines Werkes, durch die es so aktualisiert wird, dass es neu gesehen, gehört, gelesen werden kann). Intertextualisieren (als Aufladen eines Werks mit heimlichen und offensichtlichen Verweisen auf andere Werke) … Ob Musik, Bildende Kunst, Film oder Literatur – überall trifft man auf die wahren Leser als erweiterte Autoren, die in den Medien und zwischen den Medien unterwegs sind. Sie alle suchen Material, mit dem sie weiterarbeiten können, um es sich anzuverwandeln und um dabei zu zeigen, wie die Anverwandlung vor sich geht.
    Für Novalis geht es dabei aber nicht um die Entwicklung eines besonders modischen Verfahrens. Der wahre Leser als erweiterter Autor leistet für ihn viel mehr. Er führt ein Prinzip vor, durch das Kultur überhaupt erst zur Kultur wird: indem sie sich auf sich bezieht und sich selbst als Material verwendet, um sich zu erneuern. Kein Zufall, dass Novalis vorschlägt, dasselbe Prinzip nicht nur beim Lesen fremder Texte, sondern immer auch auf die eigenen anzuwenden. Je öfter und je genauer man das macht, umso besser versteht man – und umso verständiger bessert man! – den eigenen Text (»Durch unparteiisches Wiederlesen seines Buches kann der Autor sein Buch selbst läutern«, heißt es im 125. Fragment direkt im Anschluss an den oben zitierten Abschnitt.) Und noch etwas: Der Idee nach lässt sich durch die produktive Lektüre das Funktionieren der Kultur besser verstehen. Besser jedenfalls, als wenn man alles immer nur von außen beobachtet und so tut, als sei alles immer schon ein für alle Mal fertig und nicht mehr zu ändern.
    Wer sich das Fragment vom wahren Leser als erweitertem Autor über den Tisch, das Bett oder an den Spiegel hängt und in die Bücher legt, wird deshalb vor allem an eins erinnert: dass Lesen immer bedeutet, Material zu sammeln, sich anzueignen und so zu bearbeiten, dass ein neuer Text entsteht. Und man wird auch daran erinnert, dass man diese Transformation genau beobachten muss, um im eigenen

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