Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
Frustrationen zu kämpfen haben, mit denen man selbst kämpft, wenn man unbedingt schreiben will. Und sie bieten lauter Lösungen, mit denen man im besten Fall selbst etwas lösen kann. Vor allem bieten sie, was man altmodisch die Quellen der Inspiration nennt: Sie können das Hirn des produktiven Lesers so sehr anregen, dass sich die Schreibhand wie von selbst bewegt.
Aber wer so liest, entdeckt noch viel mehr. Wie viel versteht man bei Goethe, Mann, Conan Doyle, Freud, Grass und Hoppe, wenn man sie sich als produktive Leser vorstellt und ihren Leselinien durch die Bücherwelt folgt, um zu sehen, welch unterschiedliche Wege sie eingeschlagen haben. So ergeben sich faszinierende Bewegungsbilder, wenn man Autoren folgt, die Autoren lesen, die wiederum andere Autoren gelesen haben – um eigene Texte zu schreiben.
Von solchen Wegen und Bewegungen erzählen die Essays im vorliegenden Band. Wir haben zweiundzwanzig Autoren eingeladen, darüber zu berichten, wie sie andere Autoren so lesen, dass sie von ihnen etwas über das Schreiben lernen. Die Idee war, dass damit der nächste produktive Leser etwas über das Schreiben, vor allem aber auch über das produktive Lesen lernen kann – um selber neue Texte zu schreiben oder um einfach nur weiterzulesen.
Dabei darf man sich überraschen lassen. Zum Beispiel von Marcel Beyer, der Mein Bienenjahr von Lieselotte Gettert zur Lektüre empfiehlt: »Wer meint, Sprache sei etwas Gegebenes, sei einfach da, und Schreiben heiße, auf Papier zu plaudern, den schicken wir ins Bienenhaus. Es gibt keine natürlichen Sätze.« Überraschen lassen darf man sich aber auch von Klassikern wie Flaubert, Hemingway oder Novalis. Denn sie lassen sich ebenso als unkonventionelle Schreibratgeber nutzen wie jene Autoren, die für die eigene literarische Arbeit entdeckt oder wiederentdeckt werden müssen: Arno Holz, Ole Könnecke, Julio Cortázar …
Damit grenzen sich diese Essays von Büchern zum Kreativen Schreiben ab, die eine für alle Texte passende Regelpoetik propagieren und jene Werke für literarisch ›gelungen‹ halten, die den Marktvorgaben möglichst exakt folgen. Wir verzichten auf solche DIN-Normen fürs Schreiben und gehen davon aus, dass die Regeln fürs literarische Schreiben nicht allgemein formuliert werden können. Sie lassen sich nur aus der individuellen Lektüre individueller Texte ableiten – und dann experimentell im eigenen Schreiben umsetzen. So setzt das simple Prinzip »Erst lesen. Dann schreiben« auf Autoren, die immer auch die anarchische Vielfalt der literarischen Welt kennen lernen möchten, wenn sie sich an ihre eigenen Texte setzen. Einen verlässlichen Lektürekanon hat man am Ende zwar nicht zur Hand, aber vielleicht eine Beziehung zur Literatur entwickelt, die auf das produktive Lesen setzt. Um die Schwelle zwischen Lesen und Schreiben abzusenken, ist jedem Essay eine Schreibaufgabe zugeordnet.
Gewidmet haben wir den Band Robert Gernhardt, dessen Beitrag zu Lichtenberg uns an seinem Todestag erreicht hat.
Olaf Kutzmutz und Stephan Porombka, Frühjahr 2007
ROBERT GERNHARDT
Zweimal zwei nicht vier
Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher [1765 ff.]
Georg Christoph Lichtenberg war von Beruf akademischer Lehrer, ein Physiker von Weltrang, Mitglied eines Dutzends bedeutendster deutscher und ausländischer Akademien, als Lehrmeister wird er sich nie empfunden haben. Dennoch war er und – vor allem – ist er dies. Nicht durch sein Leben, das anfangs einigermaßen ungeregelt, dann angestrengt bürgerlich verlief, sondern durch sein Denken. Ein auf den ersten Blick ebenfalls ungeregeltes Denken, da Lichtenberg es nicht in den zu seiner Zeit beliebten Denkgebäuden aufgeschichtet, sondern in Heften verstreut notiert hat. Die Rede ist von seinen von ihm so genannten Sudelblättern und von den ungefähr achttausendeinhundertfünfzig darin niedergelegten Notaten, nicht für die Mitwelt bestimmt, so dass die wahre Größe Lichtenbergs erst der Nachwelt, und auch der erst sehr langsam, bewusst wurde, wobei Goethe mal wieder die Nase vorn hatte: »Lichtenbergs Schriften können wir uns als der wunderbarsten Wünschelrute bedienen. Wo er einen Spaß macht, liegt ein Problem verborgen.«
Und wir können von ihm lernen. Zumindest ich habe das getan, da ich Lichtenberg dank des belesenen Onkels Meinhardt bereits als Schüler kennenlernen konnte. Was alles ich von Lichtenberg gelernt habe, das sei in sieben Danksagungen niedergelegt.
I.
Während der Lehrmeister
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