Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
Vorwort
Einem alten Witz zufolge lautet eine der wichtigsten Regeln in Creative-Writing-Kursen: »Das bisschen, was wir lesen, schreiben wir selbst!« Der Witz teilt viel von der Unbedarftheit mit, auf die man zuweilen bei Leuten trifft, die auf Formularen als Berufswunsch »Autor bzw. Autorin von literarischen Texten« ankreuzen. Was interessiert einen schon Prousts zehnbändige Suche nach der verlorenen Zeit , wenn man doch einen eigenen verborgenen Energiekern hat, den man nur aktivieren muss, um selbst elf tolle Bände zu schreiben?
Wie weit man mit so einem Verständnis vom Schreiben kommt, merkt man, wenn man vor dem eigenen Text sitzt und den eigenen Energiekern nicht findet. Erst recht, wenn man ihn mit Mühe und zwei Gläsern Rotwein so weit aktiviert hat, dass man tatsächlich einen Text aufs Papier oder auf den Bildschirm bringt, der nur ein Problem hat: dass er nicht toll ist.
Vielleicht hilft in solchen trüben Momenten ein Blick in die Suche nach der verlorenen Zeit . Man nimmt eins der Bücher, schlägt es irgendwo auf und beginnt so zu lesen, als würde man dicht an ein Gemälde herantreten – um zu erkennen, wie der Text gemacht ist: wie die Buchstaben gesetzt sind, die Worte, die Sätze; wie eine Figur durch die Tür kommt, nachdem sie angeklopft hat und man sie tatsächlich durch die Tür kommen sieht und das Klopfen noch im Ohr hat. Je genauer man hinschaut, umso dringender möchte man dem Autor die Frage stellen, die einst der Regisseur François Truffaut einem hochverehrten Kollegen gestellt hat: »Wie haben Sie das gemacht, Mr. Hitchcock?« – »Monsieur Proust, wie haben Sie das mit dem Klopfen hinbekommen? Und wie kann es sein, dass die Figur so durch die Tür kommt, dass ich beim Lesen denke, ich kann sie tatsächlich sehen?«
Hätten jene Recht, die bei Literatur vor allem an den eigenen Energiekern denken, hätte man Truffaut das Kino verbieten und ihm abraten müssen, Alfred Hitchcock zu besuchen. Und man hätte ihn davor gewarnt, sich bei anderen die Lösungen abzuschauen: François, konzentrier Dich bitte auf Dein eigenes Heft!
Hätte Truffaut darauf gehört, hätte man seine Filme wahrscheinlich nicht sehen wollen. Genauso wenig, wie man die Texte von Autoren lesen mag, die sich nicht für Literatur interessieren und die niemals Kollegen in der Werkstatt besucht haben, um zu fragen, mit was für Tricks, Techniken und Strategien da gearbeitet wird.
Solche Literaturfeindschaft von Leuten, die selbst Bücher schreiben wollen, beruft sich wohl immer noch auf die Idee vom reinen Genie, das es allerdings – entgegen der weit verbreiteten Überzeugung – nie und nirgends gegeben hat. Oder sollte man sich den jungen Goethe, der für solche Vorstellungen gern herbeizitiert wird, als Menschen vorstellen, der nichts gelesen hat? Soll man glauben, er habe nicht bei anderen Autoren geschaut, wie die ihre literarischen Probleme technisch lösen? Nein, man muss sich ihn als Novizen vorstellen, der einen großen Kollegen in der Werkstatt besucht: »Wie haben Sie das gemacht, Mr. Shakespeare?« Und man muss sich ihn als einen energiegeladenen Leser vorstellen, der auch die Texte der weniger geschätzten Autoren genau liest, um zu wissen, wie er es gerade nicht machen will.
Selbst wer sich mit dem Entstehen von Literatur nur beiläufig beschäftigt, weiß genau, dass große Autoren immer auch große Leser sind. »Lehrmeister des Schriftstellers« ist mit den Worten Hans-Ulrich Treichels »die Literatur in ihrer Gesamtheit, auch wenn man diese Gesamtheit nur in Bruchstücken kennt«. Wer dieser Idee folgt, ist kein Konsument, der sich an Büchern bewusstlos liest. Er ist aber auch kein literaturwissenschaftlicher Leser, der sich bei der Lektüre immer schon alles in Fußnoten für den nächsten Aufsatz in der renommierten Fachzeitschrift denkt. Wer liest, um zu schreiben, ist ein produktiver Leser. Er liebt die Lust des Lesens. Zugleich ist er hellwach, um zu sehen, was da eigentlich mit den Worten passiert. »Erst lesen, dann schreiben«, heißt die Parole – schlicht und wegweisend.
Wer produktiv liest, liest alles, was gerade in Griffweite ist. Das Nibelungenlied genauso wie den Roman der jungen Autorin, die gerade in den Feuilletons gefeiert wird. Walther von der Vogelweide und Thomas Mann sind diesem Leser genauso nah wie Conan Doyle und Sigmund Freud, Günter Grass und Felicitas Hoppe. Es sind alles Kollegen, die auch über ihren Texten sitzen und deshalb mit denselben Lüsten und
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