Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern (German Edition)
Reichweite der Flak. Die meisten ihrer Bomben fallen nur ins
Hafenbecken, aber wenn doch ein Schiff getroffen wird, steigt schwarzer Rauch
auf.
In Harstad wird immer neues Kriegsmaterial in Stellung gebracht. Und
es kommen immer mehr Soldaten. »Ich erkenne unsere Stadt nicht mehr wieder«,
seufzt Annie an einem Abend. Die Familie sitzt vor dem Radio und hört die
Abendnachrichten. »Es ist aber auch ein bisschen aufregend«, denkt Lillian,
aber das behält sie lieber für sich. Und auch, dass sie jeden Abend für Tore
und ihren Bruder John betet.
Das Schlimmste?
Frühjahr 2008
Wir gehen den Flur entlang. Es riecht so, wie es in
Krankenhäusern immer riecht, und auch das Licht ist so, wie es in Krankenhäusern
immer ist. Im Stationszimmer richtet die Schwester die Medikamente für den
Abend.
Mein Vater hat den grauen Bademantel an, den ich ihm vor kurzem
geschenkt habe, die Farbe passt so gut zu seinen weißen Haaren. Ich habe meinen
Vater untergefasst. Wir gehen sehr langsam. Ich fühle, wie klein und
zerbrechlich er geworden ist.
Es ist sein zweiter Krankenhausaufenthalt in diesem Jahr, denn das
Herz lässt ihn mit seinen nun mehr als 90 Jahren öfters im Stich. Genauso wie
der Kopf und der Geist. Meinem Vater geht das eigene Leben immer mehr verloren.
Ich ahne, dass ich nur noch wenig Zeit haben werde, um über das zu sprechen,
was mich so bewegt. Ich befinde mich aber in einem Dilemma. Ich möchte ihm
jetzt endlich ganz nahe kommen, möchte mehr von ihm wissen, damit ich ihn
besser verstehen kann und mir dieses Verständnis hilft, wenn er einmal nicht
mehr da ist. Aber ich will ihn auf keinen Fall mit meinen Fragen quälen, jetzt,
wo er so schwach und müde geworden ist.
»Was war die schlimmste Situation in deinem Leben?«
Und dann ist die Frage doch plötzlich da. Sie ist so journalistisch,
so abgenutzt, so – ach, ich ärgere mich über mich selbst. Mein Vater aber
zögert keine Sekunde mit seiner Antwort. Es kommt mir fast so vor, als ob er
genau auf diese Frage gewartet hätte.
»Ja, das war wohl, als ich von der Universität runter musste.«
Ich stutze und denke im selben Moment, dass er etwas verwechselt,
wegen seiner Demenz, die sich in den letzten Monaten immer mehr gezeigt hat.
Den Tennisverein hat er verlassen müssen, das hat meine Mutter mir erzählt,
aber die Universität? Das kann eigentlich nicht sein. Wie und wo hätte er sonst
promovieren können? Gewiss sind ihm die Erinnerungen seines langen Lebens
durcheinandergeraten. Er wird etwas verwechselt haben. Vielleicht hatte er auch
etwas ganz anderes sagen wollen. Ich will ihn nicht in Verlegenheit bringen,
meinen armen alten Vater, frage also nicht nach und nehme seinen Arm nur umso
fester.
Zwei Jahre nach seinem Tod fällt mir jener Augenblick im
Krankenhaus wieder ein, als ich einen Brief finde, den mein Vater 1945 nach dem
Krieg an die alliierten Behörden geschrieben hat:
Seit 1933 hatte ich viele Demütigungen zu erdulden, z.B. musste
ich eine Zeitlang mein Studium aufgeben, bekam viele Schwierigkeiten anlässlich
meiner Prüfungen als Dr. jur. und Dipl. Betriebswirt, durfte kein Mitglied von
studentischen, beruflichen oder sportlichen Vereinigungen sein.
Dass ihm in Heidelberg einer der Professoren in SS -Uniform gegenübergesessen hat und ihn fertigmachen
wollte, weiß ich von meiner Mutter. Das war im Prüfungsgespräch zum Abschluss
seiner Promotion. Aber wann hat mein Vater sein Studium unterbrochen? Ich finde
dafür in seinen Studienbüchern keinen Anhaltspunkt.
Reichskommissar Terboven
Mai 1940
In Süd- und Mittelnorwegen sind die deutschen Truppen erfolgreicher
als im Norden. Anfang Mai ist der militärische Widerstand der Norweger gegen
die Deutschen zusammengebrochen. Jetzt soll Josef Terboven, ein alter Kämpfer,
der schon 1923 als NSDAP -Mitglied beim
Hitler-Ludendorff-Putsch in München dabei gewesen ist, die Norweger das
Fürchten lehren. Und das tut der ehemalige Gauleiter von Essen auch, nachdem
ihn Hitler am 24. April zum Reichskommissar für die besetzten Gebiete ernannt
hat. Terbovens Aufgabe ist es, die deutsche Herrschaft in Norwegen zu sichern
und auf die Bildung einer nationalsozialistischen Regierung hinzuwirken.
Seine Weisungen empfängt er nur von Hitler, dem er
unmittelbar unterstellt ist. Terboven wohnt in Skaugum, der Residenz des
norwegischen Kronprinzen, 20 Kilometer südlich von Oslo. Auch andere Orte von
nationalem Symbolwert werden von den Deutschen übernommen,
Weitere Kostenlose Bücher