Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern (German Edition)
Anstelle eines Vorworts
Ich bin schon fast 18, als meine Mutter mich an einem
Herbstnachmittag im Jahr 1969 ins Wohnzimmer holt. Sie sagt, sie müsse mir
etwas erzählen. Auf dem runden Eichentisch steht ein kleiner Henkeltopf aus
Emaille. Er ist grau und hat einen schwarzen Rand. Daneben liegt ein
hellbrauner lederner Brustbeutel mit einer geflochtenen dünnen Kordel aus Garn.
Da, wo die Kordel die Löcher im Leder durchzieht, ist sie ganz stumpf. Fährt
man mit den Fingern an den beiden Kordelbändern hoch, dann wird das Garn auf
einmal ganz weich, und dort, wo die beiden Enden zu einem Knoten
zusammengebunden sind, dort also, wo die Kordel am Hals liegt, wenn man den
Brustbeutel trägt, glänzt sie noch ein bisschen weiß und weinrot. Hebt man die
kleine, schon ganz blass gewordene Lasche des Brustbeutels hoch, sieht man
einen Namen, der mit türkisfarbener Tinte in Schreibschrift auf dem rauen
Innenleder steht: Crott .
Neben dem Emailletopf und dem Brustbeutel liegt eine Armbinde aus
Stoff, beige mit rotem Rand und schwarzem Aufdruck »K. L. Terezín«.
Abbildung 1
An diesem Nachmittag erfahre ich, dass meine Großmutter, die
Mutter meines Vaters, Jüdin war. Dass sie einen Judenstern tragen musste und
die Nationalsozialisten sie ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert
haben. Ich erfahre, dass mein Großvater seine Stelle bei der Reichsbahn
verloren hat, weil er sich nicht von seiner jüdischen Ehefrau Carola scheiden
lassen wollte. Ich erfahre, dass mein Vater als »Halbjude« aus dem Sportverein
geworfen wurde und dass er nur unter großen Schwierigkeiten studieren konnte.
Ich erfahre, dass meine Großtante Henriette in einem Konzentrationslager umgebracht
wurde.
Meine Mutter erzählt mir all das gegen den erklärten Willen meines
Vaters. Als sie darauf drängte, dass mir auch die dunklen Kapitel der
Familiengeschichte nicht länger vorenthalten werden, soll mein Vater sehr
wütend geworden sein. Er wollte jene Zeit nicht mehr zum Thema machen.
Ich habe damals die Haltung meines Vaters nicht ganz verstanden,
aber ich habe sie respektiert. Vor allem aber tat ich, um was meine Mutter mich
bat: Erzähl es niemandem! Daran habe ich mich gehalten. Vielleicht ahnte ich,
dass mir so Enttäuschungen erspart bleiben sollten. Mein Schweigen sollte mich
vor Verletzungen bewahren. Und deshalb schien es mir am besten zu sein, wenn
ich mich einfach mit dem, was ich von meiner Mutter erfahren hatte, nicht
weiter beschäftigte.
Ich weiß heute, dass es vielen Töchtern und Söhnen deutscher Juden
und »Halbjuden« so ergangen ist. Auch ihre Mütter oder Väter haben nichts von
ihrem Leid, ihrer Verfolgung und dem Tod ihrer Angehörigen in den
Konzentrationslagern erzählt, weil die Angst auch nach 1945 noch immer da war. Und
wohl auch jene Scham, die mir eigentlich unbegreiflich wäre, hätte ich sie
nicht selbst in mir gespürt.
Es ist an der Zeit, dass diese Geschichte erzählt wird. Ich konnte
ihr freilich erst zwei Jahre nach dem Tod meines Vaters nachgehen.
Randi Crott, im Dezember 2011
Abbildung 2
Reise an den Anfang
Juni 2009
Den schwarzen Rucksack mit dem roten Rand habe ich ins
Gepäckfach über meinem Sitz gelegt. In dem Rucksack befindet sich, sorgfältig
eingewickelt in zwei Handtücher, eine Urne. Es ist die Urne mit der Asche von
Helmut Crott, meinem Vater.
30 Minuten nach dem Start meldet sich eine Stimme aus dem Cockpit,
aber das Rauschen des Lautsprechers lässt mich die Ansage nur in Bruchstücken
verstehen: »Her
er flykaptein Hansen … vil lande planmessig … ønsker dere en behagelig flytur.«
Meine Mutter und ich sind unterwegs nach Nordnorwegen. Der Flug ist
ruhig, und tief unten zieht unter weißen Wolkenfetzen jene Landschaft vorbei,
deren Schönheit eigentlich zu groß für Menschen ist. Das blaue Meer scheint mit
der langen zerklüfteten Küste zu spielen, und wie immer, wenn ich diesen
Anblick genieße, fühle ich so etwas wie Stolz, dass auch ich zu diesem Land
gehöre. Die Maschine ist bis auf den letzten Platz besetzt, und fast alle
Passagiere sind Norweger. Das ist eigentlich immer so zwischen Oslo und Evenes.
Wie oft bin ich diese Strecke geflogen! Als ich einmal in letzter Sekunde und
völlig außer Atem ins Flugzeug stürzte, war die Maschine voll mit norwegischen
Soldaten, die mich, weil mein Name offenbar oft genug ausgerufen worden war,
fröhlich begrüßten: »Heia, Miss Crott!«
Vorne beginnt die Stewardess mit dem Servieren der Getränke.
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