Erzählungen
einen Ton zu lauschen, den ich nicht hören konnte.
Dann richtete er sich auf, blickte empor und flüsterte jene Worte des Bischofs von Chichester:
›Erwarte mich! Ich will Dich nicht verfehlen, Dich wieder treffen in dem hohlen Tal der Schatten!‹
Im nächsten Augenblick sprang er auf und warf sich – der Wein mochte wirken – in voller Länge auf die Ottomane. Da hörte ich einen schnellen Schritt auf der Treppe und gleich darauf ein lautes Klopfen an der Tür. Ich eilte zu öffnen, weil ich eine Störung fürchtete.
Ein Page aus Mentonis Palast stürzte in das Gemach und stammelte mit abgehetzter Stimme die unzusammenhängenden Worte: »Meine Herrin, meine Herrin! Vergiftet – vergiftet! O schöne Aphrodite!«
Bestürzt eilte ich auf die Ottomane zu, um den Schläfer zu wekken, doch seine Glieder waren starr, seine Lippen totenbleich, seine eben noch glänzenden Augen im Tode erstarrt. Ich schwankte auf den Tisch zu, meine Hand fiel auf einen zersprungenen, schwarz angelaufenen Becher, und die Erkenntnis der ganzen, gräßlichen Wahrheit blitzte in meiner Seele auf.
BERENICE
Berenice – A Tale ()
Dicebant mihi sodales, si sepulcrum amicae visitarem, curas meas aliquantulum fore levatas. (Ebn Zaiat)
Mannigfaltig ist das Elend der Erde, grenzenlos aber ist ihre Erbärmlichkeit. Wie ein Regenbogen überspannt sie den weiten Horizont, und vielfältig wie des Regenbogens Farben sind ihre Arten – ebenso bestimmt und ebenso vertraut. Ich sagte: sie überspannt den Horizont wie ein Regenbogen. Wie konnte ich einen Vergleich ziehen zwischen dem Urbild der Schändlichkeit und etwas so göttlich Schönem? Zwischen dem Symbol des Friedens und der Quelle aller Trübsal? Es mag wohl daher kommen, daß in der Ethik zumeist das Böse die Folge des Guten ist, und somit auch der Freude die Kümmernis entspringt.
Denn: entweder leiden wir namenlose Qualen bei dem Gedanken an entschwundenes Glück, oder wir erdulden Seelenpein um die Verzükkungen, die wir zu erleben hofften.
Mein Taufname ist Egaeus; meinen Familiennamen will ich nicht nennen. Doch gibt es im ganzen Land keine Zinnen, die mehr Jahre und Ruhm gesehen als die des düsteren Schlosses meiner Väter. Man hat unsere Familie ein Geschlecht von Geistersehern genannt; und viele Einzelheiten, die an dem Äußeren unseres Stammschlosses auffielen, gaben diesem Glauben eine gewisse Berechtigung; ich denke an die Fresken des Salons, die Wandbekleidungen der Schlafzimmer, die ziselierten Strebepfeiler der Waffenkammer, dann ganz besonders an die Galerie alter Gemälde, an den Eindruck, den das Bibliothekzimmer machte, und endlich an den Inhalt der Bibliothek selbst.
Alle Erinnerungen aus meiner frühen Jugend sind mit diesem Zimmer und seinen Büchern, von denen ich jedoch nichts weiter sagen will, aufs engste verbunden. In diesem Gemach starb meine Mutter.
Hier wurde ich geboren. Aber es ist wohl müßig, zu behaupten, daß ich nicht schon vorher gelebt – daß unsere Seele keine Vorexistenz habe. Sie leugnen es? Wir wollen nicht weiter darüber streiten! Ich bin überzeugt und habe kein Verlangen, andere zu überzeugen. Ich bin überzeugt, denn mich begleitet eine Erinnerung an ätherische Formen, an geisterhafte vielsagende Augen, an melodische, traurige Töne – eine Erinnerung, die mich nie verlassen wird, ein Andenken, wie ein Schatten unbestimmt, unbeständig, veränderlich und auch einem Schatten ähnlich in der Unmöglichkeit, mich davon zu befreien, solange die Sonne meiner Vernunft leuchtet.
In diesem Zimmer wurde ich also geboren. Ich kam aus der langen Nacht, die nur scheinbar das Nicht-Dasein ist, in ein Geisterland, in ein Zauberschloß, in die seltsamen Gefilde des Gedankens und klösterlicher Gelehrsamkeit.
Ist es da verwunderlich, daß ich mit erschrockenen, heißen Augen um mich blickte, daß ich mein Knabenalter unter Büchern begrub und meine Jugend an Träumereien verlor?
Seltsam und verwunderlich ist nur, daß, als die Jahre flohen und der volle Mittag meiner Männlichkeit mich noch im Hause meiner Väter fand, die Quellen meines Lebens plötzlich zu versiegen schienen und sich eine vollständige Veränderung in dem Wesen selbst meiner gewöhnlichsten Gedanken vollzog. Die Wirklichkeiten der Welt berührten mich wie Visionen und nur wie Visionen, während die seltsamen Vorstellungen des Traumlandes nicht etwa die Nahrung meines Daseins wurden, sondern einzig und allein dies Dasein selbst!
Berenice und ich waren
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