Anatomie
Prolog
Ich nahm das Jagdmesser mit der linken Hand und schätzte sein Gewicht, dann legte ich es zum Vergleich in die rechte Hand. Beim Golfspielen und als Schläger beim Baseball bin ich Linkshänder, aber die Zeitung streiche ich mit der rechten Hand glatt, und auch wenn ich telefonieren will, wähle ich mit rechts. Okay, dachte ich, »Erstechen« kannst du auch auf die Liste der rechtshändigen Aktivitäten setzen.
Der nackte Mann lag bäuchlings im Wald, und die Sonne von Tennessee schien durch die Bäume und sprenkelte seinen Rücken mit kleinen, hellen Tupfern. Ich kniete mich neben ihn, fuhr mit dem linken Daumen seine Wirbelsäule entlang und tastete nach der Lücke zwischen der vierten und fünften Rippe, direkt unter den Herzkammern. Als ich den Punkt gefunden hatte, setzte ich die Spitze des Jagdmessers dort an – es durchdrang die weiche Haut mühelos –, beugte mich vor und stieß zu. Es erforderte mehr Kraft, als ich erwartet hatte, und ich musste beide Hände zu Hilfe nehmen und auch noch mein Körpergewicht einsetzen. Sobald das Messer tief in das Muskelgewebe eingedrungen war, drückte ich den Griff nach links und damit die Schneide schräg in die andere Richtung zur Wirbelsäule. Der Winkel war nicht so spitz, wie ich es mir gewünscht hätte, also drückte ich noch kräftiger. Immer noch kein Glück. Ich setzte mich auf und überlegte, ob es eine andere Möglichkeit gab, die Spitze des Messers in den rechten Lungenflügel zu stoßen. Während ich noch erwog, die Waffe wieder aus dem nackten Rücken zu ziehen, donnerte eine schwarzweiße Geländelimousine mit eingeschaltetem Blaulicht heran und kam auf einem Betonstreifen vor mir zum Stehen. Ein junger Deputy sprang heraus, seine Augen blitzten, und seine Miene war ein Schlachtfeld widerstreitender Empfindungen.
Ich hielt die linke Hand hoch, die Rechte umfasste weiterhin fest das Messer. »Könnten Sie vielleicht noch einen Augenblick warten?«, fragte ich. »Ich bin hier noch nicht ganz fertig.« Vor Anstrengung stöhnend, riss ich den Messergriff ein letztes Mal zur Seite und warf mich mit dem ganzen Gewicht darauf. Als mein Opfer unter der Wucht dieser Attacke mit einem Ruck ins Rutschen geriet, brach mit dem Geräusch eines splitternden Asts eine Rippe. Der Deputy wurde augenblicklich ohnmächtig, doch sein Sturz wurde von der Leiche, neben der ich kniete, aufgefangen.
1
Fünf Minuten waren verstrichen, seit der Deputy flatternd die Augen wieder aufgeschlagen hatte, und immer noch hatte er kein Wort gesagt, also war es vielleicht an mir, das Eis zu brechen. »Ich bin Dr. Brockton, aber ich nehme an, das wissen Sie«, sagte ich. Er nickte schwach. Dem Messingschild an seiner Brust nach zu urteilen, war sein Name Williams. »Ist dies Ihr erster Besuch auf der Body Farm, Deputy Williams?« Er nickte wieder.
»Body Farm« war zwar nicht der korrekte, offizielle Name meiner Forschungseinrichtung, aber dieser Spitzname – geprägt von einem örtlichen FBI-Beamten und von Patricia Cornwell als Titel für einen Krimibestseller wieder aufgegriffen – war kleben geblieben. Cornwell ließ nur eine kurze Szene ihres Romans in meiner Forschungseinrichtung zur Verwesung von Leichen an der University of Tennessee spielen, doch diese eine Szene hatte – zusammen mit ebendiesem eingängigen Spitznamen der Einrichtung und ihrer makabren Mission – wohl ausgereicht. Kaum stand das Buch in den Regalen, hörte das Telefon nicht mehr auf zu klingeln, und die Medien fielen in hellen Scharen über uns her. Seitdem kennen Millionen von Menschen die »Body Farm«, aber nur wenige ihren langweiligen, offiziellen Namen: Gerichtsmedizinische Forschungseinrichtung. Im Gegensatz zu einigen meiner Kollegen ist es mir egal, wie die Leute uns nennen. Frei nach Shakespeare: Eine Body Farm würde, wie sie auch hieße, trotzdem stinken.
Viele Leute fragen sich, was ein Anthropologe mit Dutzenden verwesender menschlicher Leichen anfängt, auf und unter zehn Morgen Wald in Tennessee verstreut. Wenn sie den Begriff »Anthropologie« hören, denken sie an Margaret Mead und an ihre sexuell freizügigen Bewohner Samoas oder an Jane Goodall und ihre Schimpansen, und nicht an physische Anthropologen mit ihren Greifzirkeln und Knochen. Doch seit dem Aufstieg der forensischen Anthropologie – bei der mit den Werkzeugen der physischen Anthropologie Verbrechen aufgeklärt werden – scheint sich das Image der Knochendetektive zu verbessern. Es ist erstaunlich, was man alles
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