Der ferne Spiegel
VORWORT
Die Zeit, der Held, die Risiken
D as Buch ist entstanden, weil ich herausfinden wollte, welche Einflüsse das verheerendste Ereignis der überlieferten Geschichte auf unsere Gesellschaft gehabt hat – ich meine den Schwarzen Tod, der in der Zeit von 1348 bis 1350 schätzungsweise ein Drittel der zwischen Island und Indien lebenden Bevölkerung hinweggerafft hat. Angesichts der Möglichkeiten unserer Zeit ist der Grund für mein Interesse offensichtlich. Das Ergebnis meiner Nachforschungen ist schwer zu fassen, denn das 14. Jahrhundert war so vielen »fremden und übermächtigen Gefahren und Widrigkeiten ausgesetzt« (in den Worten eines Zeitgenossen), daß sich seine Wirren nicht auf einen einheitlichen Ursprung zurückverfolgen lassen. Nicht nur die vier Reiter aus der Vision des heiligen Johannes haben ihre Spuren hinterlassen, es sind sieben geworden: Seuche, Krieg, Steuern, Räuberei, Mißwirtschaft, Aufruhr und Kirchenschisma haben das Jahrhundert geprägt. Bis auf die Seuche selbst entstammte all dies einer Zeit, die vor dem Schwarzen Tod lag, und es dauerte an, als die Seuche vorüber war. Obwohl meine eingangs gestellte Frage ihrer Antwort auswich, blieb das Interesse an dieser Zeit eine Herausforderung für mich: eine gewalttätige, gequälte, verwirrte, leidende und zerfallende Zeit, ein Zeitalter, in dem, wie viele glaubten, Satan triumphierte – aber auch, wie mir scheint, für uns, in einer Zeit ähnlicher Unordnung, eine trostreiche Zeit.
Wenn unser letztes Jahrzehnt oder die letzten beiden eine Zeit erlöschender Gewißheiten und ungewöhnlicher Unruhe war, dann ist es beruhigend zu wissen, daß die Menschheit schon Schlimmeres durchlebt hat.
Eigenartigerweise hat sich schon zu Anfang unseres Jahrhunderts ein anderer Historiker diesen »phänomenalen Parallelen« zugewandt. In den Nachwehen des Schwarzen Todes und des Ersten Weltkrieges fand er die gleichen Mißlichkeiten: wirtschaftliches Chaos, soziale Unruhe, steigende Preise, Profitsucht, Niedergang der Moral, geringe Produktivität, industrielle Trägheit, frenetischer Vergnügungswahn, Verschwendungssucht, Luxus, Ausschweifung, soziale und religiöse Hysterie, Habgier, Geiz und Mißwirtschaft. »Die Geschichte wiederholt sich nicht«, sagte Voltaire, »aber immer tut es der Mensch.« Für Thukydides war, wie wir wissen, dieses Prinzip die Grundlage seiner historischen Arbeiten.
In der schlichten Zusammenfassung des Schweizer Historikers J. C. L. S. de Sismondi [Ref 1] war das 14.Jahrhundert »keine Zeit für Menschlichkeit«. Bis vor kurzem weckte das 14. Jahrhundert bei den Historikern wenig Interesse. Sie ließen es außer acht, weil es nicht in ihr Bild vom beständigen Fortschritt der Menschengattung paßte. Aber nach den Erfahrungen des schrecklichen 20. Jahrhunderts empfinden wir ein größeres Mitgefühl für dieses zerrissene Zeitalter, dessen Ordnung unter dem Druck ungünstiger und gewalttätiger Verhältnisse zusammenbrach. Mit schmerzlichem Blick erkennen wir alle Anzeichen einer »Zeit der Qual, in der es kein Gefühl einer gesicherten Zukunft gibt«.
Der zeitliche Abstand von sechshundert Jahren läßt das Typische des menschlichen Charakters hervortreten. Im Mittelalter herrschten Lebensbedingungen, die von den unsrigen derartig verschieden sind, daß man fast von einer fremden Zivilisation sprechen kann. Infolgedessen erscheinen uns die Eigenschaften, die wir in dieser fremdartigen Umgebung als vertraut wiedererkennen, als unveränderliche menschliche Natur. Wenn man darauf besteht, Lehren aus der Geschichte ziehen zu wollen, dann sind sie hier zu finden. Während er sich den Fängen der Gestapo zu entziehen versuchte, schrieb der französische Mediävist Edouard Perroy in seinem Buch über den Hundertjährigen Krieg: »Bestimmte Reaktionen auf das Schicksal, bestimmte Verhaltensweisen erhellen sich wechselseitig.«
Die fünfzig Jahre nach dem Schwarzen Tod sind der Kern dessen,
was ich einen zusammenhängenden historischen Zeitabschnitt nennen möchte. Er hat von 1350 bis 1400 gedauert, vielleicht einige Jahre länger. Um den Gegenstand einzuengen und mein Thema in den Griff zu bekommen, habe ich das Leben einer authentischen Person zum Medium meiner Untersuchung gemacht. Neben dem menschlichen Interesse hat dies den Vorteil, daß ich näher an der Realität bleibe. So bin ich nämlich gezwungen, den konkreten Umständen und Abschnitten einer mittelalterlichen Lebensgeschichte zu folgen, mag dies Leben führen,
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