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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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Rudern, Fischen, Baden, Musizieren und Lesen recht angenehm verbracht, wäre uns nicht allmorgendlich aus der volkreichen Stadt so grausige Botschaft zugegangen. Kein Tag ging hin, ohne uns Nachricht von dem Ableben irgendeines Bekannten zu bringen. Dann, als das Verhängnis zunahm, lernten wir, täglich mit dem Verlust eines Freundes zu rechnen.
    Schließlich zitterten wir beim Nahen jedes Boten. Die ganze Luft von Süden her schien uns nach Tod zu riechen. Ja, diese lähmende Vorstellung nahm von meiner ganzen Seele Besitz. Ich konnte von nichts anderm mehr reden oder träumen, an nichts andres mehr denken. Mein Gastgeber war nicht von so leichter Erregbarkeit, und obgleich er sehr niedergeschlagen blieb, bemühte er sich noch, meine Lebensgeister zu heben. Sein sehr philosophischer Verstand ließ sich nicht von Unwirklichkeiten berühren. Die wirklichen Schrecken empfand er stark genug, für ihre Schatten aber, ihre Spiegelungen, hatte er kein Verständnis.
    Seine Versuche, mich dem unnatürlichen Trübsinn, dem ich verfallen war, zu entreißen, wurden durch einige Schriften, die ich in seiner Bibliothek gefunden hatte, wieder zunichte gemacht. Sie waren derart, daß sie den Samen ererbten Aberglaubens, der latent in mir vorhanden war, zum Keimen brachten. Ich hatte jene Bücher ohne sein Wissen gelesen, und so blieb er im unklaren darüber, auf welche Ursachen meine unheimlichen Phantasien zurückzuführen seien.
    Ein bei mir beliebtes Thema war der volkstümliche Glaube an Zeichen und Wunder – ein Glaube, den ich nach meiner damaligen Lebensauffassung ernstlich zu verteidigen geneigt war. Wir führten lange und angeregte Zwiegespräche über diesen Gegenstand; er betonte, wie ganz unbegründet der Glaube an solche Dinge sei; ich behauptete, ein so völlig selbständiges, das heißt ohne sichtbare Spuren einer Suggestion entstandenes Volksempfinden trage die nicht mißzuverstehenden Elemente der Wahrheit in sich und verdiene größte Beachtung.
    Tatsache ist, daß bald nach meinem Eintreffen dort im Landhaus mir ein so ganz unerklärliches Ereignis begegnete, daß meine Neigung, darin ein Omen zu sehen, begreiflich war. Es erschreckte, verwirrte und bestürzte mich gleichzeitig so, daß viele Tage vergingen, ehe ich mich dazu entschließen konnte, meinem Freunde die Umstände mitzuteilen.
    Ein außerordentlich warmer Tag ging zu Ende, als ich mit einem Buch in Händen am offenen Fenster saß, das hinter einem weiten Blick auf beide Flußufer einen fernen Hügel sehen ließ. Ein sogenannter Erdrutsch hatte die mir zugekehrte Seite der Berglehne zum großen Teil der Bäume beraubt. Meine Gedanken waren lange von dem Buch vor mir zu der Trauer und Verzweiflung der nachbarlichen Stadt gewandert. Als ich die Blicke von den Seiten erhob, fielen sie auf die kahle Bergwand und auf ein Wesen – ein lebendiges Ungeheuer von entsetzlicher Gestalt, das eilig seinen Weg vom Gipfel zur Talsohle nahm und schließlich drunten im dichten Forst verschwand.
    Als dieses Geschöpf zuerst sichtbar wurde, zweifelte ich an meinen gesunden Sinnen, wenigstens an der Klarheit meines Blickes, und viele Minuten vergingen, ehe ich mich wirklich überzeugt hatte, weder verrückt noch traumbefangen zu sein. Wenn ich nun aber das Ungeheuer beschreibe (das ich deutlich sah und ruhig auf seinem ganzen Wege beobachtete), so – fürchte ich – werden meine Leser hinsichtlich dieser beiden Punkte schwerer zu überzeugen sein als sogar ich selbst.
    Aus einer Vergleichung mit dem Umfang der großen Bäume, an denen das Ungetüm vorüberkam – der paar Waldriesen, die der Wucht des Erdrutsches standgehalten hatten –, mußte ich schließen, daß es weit größer war als irgendein vorhandenes Linienschiff. Ich sage ›Linienschiff‹, weil die Gestalt des Monstrums den Gedanken nahelegte; der Rumpf eines unsrer mit vierundsiebzig Kanonen bestückten Linienschiffe vermittelt ein ganz anschauliches Bild von dem Bau des Tieres. Sein Maul befand sich am Ende eines sechzig bis siebzig Fuß langen Rüssels, der den Umfang eines normalen Elefanten hatte. An der Wurzel dieses Rüssels war ein wahrer Wald von schwarzem zottigen Haar – mehr als genügend für die Felle von ein paar Dutzend Büffeln, und aus diesem Haarwald sprangen seitlich und abwärts geneigt zwei schimmernde Stoßzähne vor, ähnlich denen des wilden Ebers, doch von ganz maßloser Größe. Gleichlaufend mit dem Rüssel und an dessen beiden Seiten streckte sich je ein riesiger,

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