Erzählungen
Zunächst laß mich dir eine für den Schulunterricht bestimmte Beschreibung der Gattung Sphinx vorlesen, aus der Familie der Crepuscularia und der Ordnung der Lepidopte ra , zur Klasse der Insecta oder Insekten gehörig. Der Abschnitt lautet:
›Vier hautartige Schwingen, besetzt mit kleinen farbigen, metallisch schimmernden Schuppen; das Maul bildet einen aufgerollten Rüssel, der eine Verlängerung des Kiefers darstellt; zu beiden Seiten befinden sich Rudimente des Kiefers und flaumiger Fühlhörner; das untere Flügelpaar wird mit dem oberen durch ein straffes Haar verbunden; die eigentlichen Fühlhörner haben die Gestalt einer langen prismatischen Keule; Hinterleib spitz zulaufend. Die Totenkopf-Sphinx hat zuzeiten die Bevölkerung durch den schwermütigen Ton entsetzt, den sie ausstößt, wie auch durch das Symbol des Todes, das sie auf ihrem Bruststück trägt.‹ «
Hier schloß mein Freund das Buch und beugte sich vor, genau in der Haltung, die ich innehatte, als ich das ›Ungeheuer‹ erblickte. »Ah, da ist es!« rief er jetzt aus – »es steigt den Berghang hinauf, und ich gestehe, daß es ein sehr bemerkenswertes Wesen ist. Immerhin ist es keineswegs so groß oder so entfernt, wie du angenommen hast; denn wie es da an dem Faden, den eine Spinne schräg über den Fensterrahmen gezogen hat, seinen Weg nach oben schlängelt, finde ich, daß seine Länge höchstens etwa ein sechzehntel Zoll beträgt und daß auch die Entfernung von ihm zu meinem Augapfel ein sechzehntel Zoll ausmacht.
DAS FASS AMONTILLADO
The Cask of Amontillado ()
Die tausend Ungerechtigkeiten Fortunatos hatte ich, so gut es ging, ertragen, doch als er mich zu beleidigen wagte, da schwor ich Rache. Sie kennen mich und werden mir deshalb glauben, daß ich auch nicht eine einzige Drohung gegen ihn ausstieß. Eines schönen Tages würde ich mich schon rächen, das stand felsenfest ; und meine Rache sollte so vollkommen sein, daß ich selbst nicht das mindeste dabei zu wagen hätte. Ich wollte nicht nur strafen, sondern ungestraft strafen.
Ein Unrecht ist nicht gesühnt, wenn den Rächer wiederum Strafe ereilt – der Beleidiger büßt nicht, wenn er den Rächer nicht kennt.
Sie können sich denken, daß ich dem Fortunato mit keinem Worte, mit keiner Handlung Anlaß gegeben habe, an meinem Wohlwollen zu zweifeln. Ich lächelte ihm freundlich zu, wie immer, und er ahnte nicht, daß ich nur lächelte, weil ich seinen Untergang plante.
Er hatte seine schwache Seite, dieser Fortunato, obwohl er im übrigen ein Mann war, den man achten, ja fürchten mußte. Er tat sich nämlich etwas darauf zugute, ein Weinkenner zu sein. Nur wenige Italiener sind wirkliche Kenner. Gemälde und Edelsteine beurteilte Fortunato gleich den meisten seiner Landsleute wie ein Scharlatan; doch was alte Weine anging, da war er, wie gesagt, wirklich ein Kenner. Ich selbst kannte mich ebenfal s sehr gut aus in den Erzeugnissen der italienischen Weinberge und kaufte reichlich ein, wo sich nur Gelegenheit bot.
Eines Abends in der Dämmerung, gerade während der tollsten Faschingszeit, traf ich meinen Freund auf der Straße. Er redete mich mit vergnügter Herzlichkeit an, denn er hatte viel getrunken. Der Gute sah buntscheckig genug aus in seinem engschließenden Gewande, dessen Hälften verschieden gefärbt waren, und seiner kegelförmigen, mit Schellen behangenen Kappe. Ich war so erfreut, ihn zu sehen, daß ich schier nicht aufhören konnte, seine Hand zu schütteln.
»Mein lieber Fortunato!« sagte ich zu ihm, »das trifft sich gelegen!
Nein – wie ausgezeichnet Sie heute aussehen! – Aber denken Sie: Ich habe ein Faß Amontillado bekommen – oder vielmehr einen Wein, den man dafür ausgibt … ja, ja! Ich habe meine Zweifel …«
»Wie?« fragte er, »Amontillado? Ein Faß? – Ein ganzes Faß? – Nicht möglich! Und jetzt mitten im Karneval!«
»Ich habe ja auch meine Zweifel«, erwiderte ich ihm. »Ich war töricht genug, den vollen Preis für Amontillado zu zahlen, ohne vorher Ihr Urteil einzuholen. Aber Sie waren nirgendwo aufzutreiben, und ich wollte die Kaufgelegenheit nicht vorübergehen lassen …«
»Amontillado!!??«
»Ich habe meine Zweifel, wie gesagt …«
»Amontillado!?«
»Und möchte gern Gewißheit haben …«
»Amontillado!? …«
»Da Sie wohl heute abend nicht mehr frei sind, will ich Luchesi aufsuchen. Wenn irgend jemand ein Urteil hat, so ist er es. Er wird mir schon sagen …«
»Luchesi kann Amontillado nicht
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