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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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und ehemaliger Chef Chukow bekam schrecklichen Verfolgungswahn. Er dachte, die Putschisten würden vor nichts haltmachen und unter Umständen sogar Moskau mit Atomsprengköpfen bombardieren. Also packte er alle Lebensmittelvorräte, die er in seiner Wohnung finden konnte, in einen Rucksack, nahm einen Fünf-Liter-Kanister mit Wasser und das Familienalbum und stieg damit in die Moskauer Kanalisation, um dort zu überleben. Er wollte eigentlich über das Röhrensystem die Stadt verlassen, verlief sich jedoch hoffnungslos, wurde von riesengroßen Ratten angefallen und bekam keine Luft mehr. Am nächsten Morgen stieg er aus der Kanalisation wieder ans Licht – mitten auf dem Lenin-Prospekt. Der Putsch war längst zu Ende, die Panzer nirgendwo mehr zu sehen, nur ganz normale Autos überquerten den Prospekt. Der mutige Jelzin leitete den Widerstand. Innerhalb eines Tages setzte er die Putschisten unter Arrest, schickte die Soldaten zurück in den Wald und befreite Gorbatschow und seine Frau aus ihrem Gefängnis auf der Krim.
    Gorbatschow kehrte nach Moskau zurück. Er sah zerstreut und verloren aus. Jelzin wirkte dagegen unverbraucht und weiterhin tatendurstig. Er wandte sich an das Volk und meinte, ab jetzt wäre er Gorbatschow, beziehungsweise, er würde es gerne werden.
Über eine Stunde erzählte er im Fernsehen, wie er unsere Gesellschaft nun bis in die letzten Winkel hinein reformieren wolle. Das war eine nette Abwechslung zur Schwanensee- Musik, die bis dahin ununterbrochen im Fernsehen ohne Bild gelaufen war und zum Schluss allen ziemlich auf die Nerven gegangen war. Jelzin kam beim Volk gut an. »Schluss mit Schwanensee« , sagte er, »Schluss mit Generalstreik, alle gehen sofort wieder an die Arbeit, wir haben doch so viel zu tun! Die Putschferien sind vorbei.«
    Wenig später wurde Jelzin zum Präsidenten ernannt  – und damit noch einmal die berühmte Glatzentheorie eines alten sowjetischen Politologen bestätigt. Sie besagt, dass Russland immer schon von kahlen und behaarten Herrschern in harmonischer Abwechslung regiert wird. Eine Glatze an der Macht kann also nur durch eine Nichtglatze ersetzt werden. Laut dieser Theorie durfte man nach dem glatzköpfigen Gorbatschow einen stark behaarten Politiker erwarten. Und so geschah es dann auch. Langsam nahm das Leben wieder seinen gewohnten Gang, die junge russische Demokratie war für diesmal gerettet.
    Ich stieg wieder auf die wackelige Leiter in meiner Wohnung, um weiter die Decke im Berliner Zimmer zu tapezieren.

Wo spielt die Musik?
    In meinen jungen Jahren habe ich Tontechnik studiert. Die offizielle Bezeichnung meines Berufes lautete »Toningenieur für Rundfunk und Fernsehen«. Meine Diplomarbeit bestand darin, mit zwei anderen angehenden Toningenieuren aus bereits bestehenden Teilen eine Tonbandmaschine zusammenzubasteln. Zwei Monate spielten wir Karten in der Werkstatt oder saßen vor dem Fernseher, gelegentlich schraubten wir auch an dem Gerät herum. Eine Prüfungskommission musste am Ende unsere Arbeit begutachten, aber wir machten uns deswegen keine Sorgen. Mit unserer Tonbandmaschine konnten wir uns sehen lassen,
sie war so groß wie ein Kühlschrank, sehr stabil und konnte unglaublich schnell die Bänder hin und her spielen. Sie hatte nur einen kleinen technischen Defekt: Sie konnte nichts abspielen. Die Musik blieb irgendwo zwischen Verstärker und Lautsprechern stecken.
    Niemand ist perfekt, dachten wir. Um den Mangel zu kaschieren, legten wir etwas Geld zusammen, kauften eine Kiste tschechisches Bier und stellten sie in die Tonbandmaschine. Unser Plan war ebenso einfach wie überzeugend. Die Prüfungskommission würde die Kiste finden, sich freuen und unsere Arbeit abnehmen. Der für uns zuständige Prüfer stellte sich jedoch zickig an. Er meinte, eine Kiste tschechisches Bier sei nicht ausschlaggebend für die Bemessung der Tonqualität. Nach langen Verhandlungen kamen wir zu dem Schluss, dass eine Kiste guten armenischen Kognaks ausschlaggebend für die Bemessung der Tonqualität wäre.
    Diese Diplomarbeit hat uns drei damals in den finanziellen Ruin getrieben. Heute weiß ich, warum unsere Tonbandmaschine nicht funktionierte, doch diese Erkenntnis kommt zwanzig Jahre zu spät. Die Zeit kann man nicht zurückdrehen, der Kognak ist längst ausgetrunken, und die Musik spielt anderswo. Die großen Maschinen gehören der Vergangenheit
an. Heute kommt die Musik aus kleinen, mikroskopischen, fast unsichtbaren Quellen. Sie kommt aus der Decke

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