Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
oft gar keine Unterwäsche. Für Mädchen war es etwas komplizierter. Die meisten wandten sich an Spekulanten, die mangelhafte Westware anboten und dafür unglaubliche Preise verlangten. Trotzdem, als mein Freund Antip 1988 auf die Idee kam, zu Hause auf der siebzig Jahre alten Singer -Nähmaschine seiner Mutter Stringtangas aus Fallschirmseide zu produzieren und uns seinen Prototyp präsentierte, lachten wir ihn zuerst aus. Sein Werk bestand genau genommen aus einem Fallschirmseil, der Hintern blieb praktisch unbedeckt, nur vorne nähte Antip ein kleines Dreieck auf. Es sah zu frech, zu westlich, beinahe pornografisch aus. Keine anständige sowjetische Frau würde sich trauen, so etwas jemals anzuziehen, dachten wir.
Unsere Vermutungen erwiesen sich aber als vollkommen falsch. Antips Geschäft blühte in kürzester Zeit auf. Er belieferte mehrere Zeitungskioske in Moskau mit seinen Stringtangas und konnte davon jede Woche noch hundert mehr absetzen. Die Produktionskosten waren weniger als gering. Aus einem einzigen alten Fallschirm, den Antip aus den Lagerräumen des »Verbandes der freiwilligen Helfer der Zivilluftfahrt« stahl, machte er über tausend Slips. Antip verkaufte die Dinger nicht sehr teuer, er nahm lediglich zehn Rubel das Stück, trotzdem wurde er sehr schnell sehr reich und eitel noch dazu. Er fuhr nur noch mit dem Taxi, ging jeden Tag in die teuersten Restaurants und kannte bald seine alten Freunde nicht mehr. Doch sein süßes Leben war nicht von Dauer. Ein Jahr später erwachte der Staat aus seiner wirtschaftlichen Lethargie und wandte sich unter anderem der Unterwäscheproblematik zu. Millionen von billigen Frauenslips wurden in der Türkei eingekauft und füllten die Regale in den Kaufhäusern. Man konnte nun an jeder Ecke echte westliche Stringtangas kaufen. Antip blieb auf seiner Ware sitzen. Die letzten paar hundert Höschen verschenkte er an seine Bekannten und schulte wenig später zum Computerhändler um.
Derweil löste sich die Sowjetunion auf. Und die
hässliche alte sowjetische Frauenunterwäsche erlangte mit der Zeit Kultstatus. Nun wurde sie sogar noch zum Kunstobjekt. Als Wanderausstellung »Sowjetische Unterwäsche – Die Erinnerung des Körpers an die kommunistische Diktatur« tourt sie durch die Welt.
Meine Armeeunterhose
Kurz nach Weihnachten gingen wir mit den Kindern spazieren. Die Stadt wirkte verlassen, die jungen Menschen waren noch nicht von ihren Eltern zurückgekehrt, die alten waren wahrscheinlich noch mit der Verdauung ihrer Weihnachtsgans beschäftigt. Und unser größtes Kaufhaus erinnerte an ein Schlachtfeld. Als hätten sich hier zwei Armeen mit allem Greifbaren beschmissen, das meiste dann mitgenommen, etliches aber liegen gelassen. Wer hatte hier gewonnen? Und wer verloren? Diese Fragen bleiben bei solchen Konsumschlachten meist unbeantwortet. Wir inspizierten die Restwaren auf der Suche nach Brauchbarem.
»Ich hasse Rosa«, schimpfte Sebastian laut, »das ist eine Mädchenfarbe, wer das anzieht, ist kein Mann!«
Ich wusste bereits seit langem, dass die Jungs in seiner Grundschule ihr Geschlecht vor allem durch die Ablehnung der Mädchenfarbe Rosa definierten.
»Nun halt mal die Luft an, Junge«, sagte ich, insgeheim beeindruckt von so viel sozialer Kompetenz bei einem Neunjährigen. Ich wollte die Farbe Rosa in Schutz nehmen, aber anscheinend hatten die meisten Konsumenten Sebastians Ansicht geteilt und rosafarbene Sachen liegen lassen: rosa Jacken, rosa Pullover, rosa Socken. Auch für rosa Porzellan waren die Berliner offensichtlich nicht schwul genug. Und wessen beknackte Idee war es, die neue PlayStation »Nintendo DS Lite« in Rosa zu produzieren? Alle anderen Farben waren längst ausverkauft, nur die rosa Playstations türmten sich in der Elektronikabteilung zu einem Berg. Mein Sohn hielt sich beide Hände vor den Mund und rollte pathetisch mit den Augen. So etwas macht er meist im Auto, wenn ihm schlecht wird oder wenn Oma ihn mit ihrer Lieblingstorte füttern will. In seiner Körpersprache bedeutet das: »Ich muss gleich kotzen.« Versuche nun einer, die Menschen zu verstehen. Zum einen diskutieren sie, ob blutige Computerspiele der Grund dafür sind, dass
manche Schüler durchdrehen. Zum anderen produzieren sie eine Playstation in Rosa – eine klare Einladung zum Amoklauf.
Auch meine Tochter wollte die sehr preiswerte, weil dreimal im Preis heruntergesetzte, rosa Mütze nicht haben.
»Ich will etwas weniger Auffälliges«, meinte sie
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