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Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord

Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord

Titel: Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord Kostenlos Bücher Online Lesen
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ausgenutzt wurde. Alles war so verlaufen, wie er es bestimmt hatte. Man hatte ihn verhaftet, und schließlich hatte er sein zwanghaftes Kreiszeichnen gestanden. Wie er's geplant hatte. Folglich wurde er wieder freigelassen, und alle waren Clémence hinterhergerannt. Der Schuldigen, die er für sie vorbereitet hatte. Eine Clémence, die seit Monaten tot war und die sie so lange vergeblich gesucht hätten, bis die Ermittlungen schließlich eingestellt worden wären. Danglard runzelte die Stirn. Zu viele Dinge waren ungeklärt.
    Er kehrte wieder zum Kommissar zurück, der mit Castreau zusammen schweigend etwas Brot aß und noch immer am Rande des Pfades saß. Mit der Hand versuchte Castreau, ein Amselweibchen mit ein paar Brotkrumen anzulocken.
    »Warum sind die Vogelweibchen nur immer farbloser als die Männchen?« fragte Castreau. »Die Weibchen sind braun, beige, irgendwas. Man könnte meinen, es wäre ihnen völlig egal. Die Männchen dagegen sind rot, grün, golden. Warum, verdammt? Eine verkehrte Welt.«
    »Angeblich brauchen die Männchen das, um zu gefallen«, sagte Adamsberg. »Die Männchen müssen unaufhörlich Tricks erfinden. Ich weiß nicht, ob Sie das schon bemerkt haben, Castreau. Unaufhörlich Tricks. Wie ermüdend!«
    Das Amselweibchen flog davon.
    »Das Amselweibchen hat genug zu schaffen, seine Eier zu erfinden und sie großzuziehen, oder?« fragte Delille.
    »So wie ich«, sagte Danglard. »Ich muß ein Amselweibchen sein. Meine Brut macht mir ständig Sorgen. Vor allem der Letzte, den man mir ins Nest gelegt hat, der kleine Kuckuck.«
    »Nicht so voreilig«, entgegnete Castreau. »Du ziehst Dich nicht beige und braun an.«
    »Verdammter Mist«, erwiderte Danglard. »Deine zoologisch-anthropologischen Banalitäten führen nicht weiter. Mit Vögeln wirst du die Menschen jedenfalls nicht verstehen. Was denkst du denn? Vögel sind Vögel, das ist alles. Was beschäftigst du dich damit, wo wir eine Leiche am Hals haben und nicht das Geringste verstehen? Oder verstehst du das vielleicht alles?«
    Danglard spürte sehr gut, daß er Unsinn redete und daß er sich unter anderen Verhältnissen differenzierter ausgedrückt hätte. Aber dafür war er an diesem Vormittag nicht gut genug in Form.
    »Sie müssen mich entschuldigen, daß ich Sie nicht über alles informiert habe«, sagte Adamsberg zu Danglard. »Aber bis heute morgen hatte ich keinerlei Grund, mir meiner sicher zu sein. Ich wollte Sie nicht in bloße Vorahnungen hineinziehen, die Sie mit ein paar vernünftigen Überlegungen widerlegt hätten. Ihre Überlegungen beeinflussen mich, Danglard, und ich wollte nicht das Risiko eingehen, vor heute morgen beeinflußt zu werden. Sonst hätte ich meine Spur verlieren können.«
    »Die Spur der faulen Äpfel?«
    »Vor allem die Spur der Kreise. Die Kreise, die ich gehaßt habe. Erst recht, als Vercors-Laury mir bestätigt hat, daß es sich nicht um eine wirkliche Zwangsneurose handelte. Schlimmer, es war überhaupt keine Zwangsneurose. Nichts an diesen Kreisen deutete wirklich darauf hin. Es ähnelte nur einer Obsession, es ähnelte der Vorstellung, die man davon haben kann. Zum Beispiel haben Sie bemerkt, Danglard, daß der Mann die Art seiner Zeichnung variierte. Manchmal zeichnete er den Kreis in einem Zug, manchmal in zwei, manchmal zeichnete er sogar ein Oval. Aber glauben Sie, daß einer, der zwanghaft handelt, eine solche Nachlässigkeit hätte hinnehmen können? Ein Zwangsneurotiker regelt seine Welt auf den Millimeter genau. Sonst braucht man keine Neurose. Die Neurose ist dazu da, die Welt zu organisieren, um sie zu bezwingen, um das Unmögliche zu beherrschen, um sich davor zu schützen. Die Kreise hier, ohne genaues Datum, ohne genaues Objekt, ohne genauen Ort, ohne genaues Muster sind ein billiger Abklatsch einer Zwangsneurose. Der ovale Kreis in der Rue Bertholet, in dem Delphine Le Nermord gefunden wurde, das war sein großer Fehler.«
    »Wieso das?« fragte Castreau. »Da! Da ist das Männchen! Da ist das Männchen mit seinem gelben Schnabel!«
    »Der Kreis war oval, weil der Bürgersteig schmal war. Nicht einmal der schlichteste kleine Zwangsneurotiker hätte das ertragen. Er wäre einfach drei Straßen weiter gegangen. Der Kreis war dort, weil er an dieser Stelle sein mußte, auf halbem Weg der Strecke der Streifenbeamten, in einer dunklen Straße, die den Mord ermöglichte. Der Kreis war oval, weil es keine Möglichkeit gab, Delphine Le Nermord anderswo umzubringen, etwa auf einem großen

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